Ah, die Olympischen Winterspiele. Unzählige Möglichkeiten, auf Eis zu rutschen. Ich gebe zu, keine Ahnung von Wintersportarten zu haben, daher gebe ich mit der kleinen Meta-Olympiade aller temporären Experten in meinem Wohnzimmer zufrieden. Ein Punkt für denjenigen, der die Snacks mit bringt, zwei Punkte für patriotische Kriegsschreie und drei Punkte für die einfallsreichsten Sprüche zu männlichen Eiskunstlaufkostümen.
Bei all dem Enthusiasmus findet sich aber auch genug Kritik. Neben dem universell-anwendbaren Standard „Free Tibet!“ gibt es im Fall von Vancouver den Protest gegen die unnötige Geldverschwendung. Die Millionen von Dollar hätten ja anders genutzt werden können — zum Beispiel zur Verbesserung der sozialen Verhältnisse in der Stadt.
Denn Vancouver ist trotz aller Auszeichnungen in Sachen Lebensqualität auch ein Unruheherd. Down Town East Side (DTES) erinnert kaum mehr an das friedliche Kanada. Obdachlosigkeit, Arbeitslosigkeit, Drogenabhängigkeit, willkommen im Bahnhof Zoo. Diese Probleme gibt es überall, aber gerade in Vancouver bilden sie einen eher beeindruckenden Kontrast zu dem, was man sonst als idealen Lebensraum ansehen könnte.
Auch Misha Kleider sieht das als ein wichtiges Thema an, weshalb er sich zum Protagonisten eines sozialen Experimentes macht. „Streets Of Plenty“, die Dokumentation, die die Missstände Vancouvers aufzeigen soll, gibt es online zu sehen. Kleider will versuchen, dreißig Tage lang in DTES aus zu kommen und erfasst dabei die betroffenen Menschen sowohl mit offener als auch mit versteckter Kamera in Interviews oder kleinen Portraits. Er ist überzeugt davon, auch in diesen dunklen Ecken der Stadt klarzukommen: „So schwer kann das ja nicht sein“. Als ich von dieser Reportage erfuhr, war ich kurz davor sie als typischen Eventparasit der Olympiade zu verwerfen, meine Neugier gewann dann aber doch. Ich bin bitter enttäuscht und verbleibe mit einem fahlen Nachgeschmack.
Nicht wegen der Obdachlosigkeit. Nicht, weil so viele Menschen auf der Straße an der Drogenabhängigkeit zugrunde gehen. All das ist nicht neu oder überraschend. Ja, es gibt Probleme, ja, man sollte die Augen nicht davor verschließen, ja, man muss auch mithelfen und seinen Teil beitragen. Gerade in Vancouver herrschen Zustände, die man sonst in einer düsteren Ecke US-amerikanischer Großstädte erwarten würde. Ja, ja. Aber das wissen wir alles.
Vielmehr hat mich die Dokumentation selbst erschlagen. Abgesehen davon, dass Kleider eine völlig fiktive Situation erschafft, indem er einfach als Obdachloser startet (weil, man ist zuerst obdachlos und hat dann nur deshalb erst die Probleme), hätte „Streets Of Plenty“ auch nach Tag 3 enden können. Kleider merkt, dass er dank Staat alles bekommt, was er braucht. Klamotten, Dach über dem Kopf, Geld. Er merkte, dass es für ihn nicht schwierig ist obdachlos zu sein, also geht er betteln, schläft auf der Straße und säuft sich die Birne platt – auch wenn das absolut nicht dem natürlichen Verlauf der Dinge entsprechen würde. Weil ihm das aber weder „authentisch“ (!) noch „hart“ genug ist, setzt er sich zum Schluss eine ordentliche Spritze Heroin.
Ja ne klar, macht man ja so.
Inwiefern dieser Film ein anderes Licht auf ein bekanntes Problem geworfen hat weiß ich wirklich nicht. Drogenabhängigkeit kann ein Grund sein für Obdachlosigkeit, Obdachlosigkeit ist mit den bisherigen Mitteln wie der Bereitstellung neuer Obdachlosenheime kaum zu bekämpfen. Keine Erkenntnisse, die man erst im Selbstexperiment mit harten Drogen gewinnen muss. Misha Kleider hält es dennoch für nötig, einen Trip ins Abenteuerland zu starten und bedürftigen Menschen den wichtigen Schlafplatz zu nehmen. Alles, um der auf Olympia blickenden Welt zu zeigen, welche Probleme weder ansatzweise respektabel dokumentiert werden, noch eine Lösung haben. Schön. Und demonstriert damit, wie unumgänglich es also sein muss, Drogen zu spritzen. Ganz harter Typ.
Misha Kleider ist ein überheblicher Idiot der sich wohl zu fein war für einen allgemeingültigen Extremsport. Wer niemals mit solchen Problemen zu kämpfen hatte wird auch als Tourist im Abgrund nicht kämpfen müssen, denn man weiß ja, dass es schließlich wieder nach Hause geht. Streets of Plenty dokumentiert keine Ursachen, sondern Symptome. An keiner Stelle wird überhaupt angesprochen, wieso gerade in Vancouver diese Probleme vorherrschen. Bildung oder neue Einsichten gab es also keine. Dafür werde ich nun das Gefühl nicht los, dass es bald auch Reisebüros für solche Experimente geben wird…
Zwar nur fuer eine Nacht (und ohne Drogen), aber im Prinzip machen das die Charities doch schon seit Ewigkeiten. Sogar Prinz William hat schon hinter Muelltonnen uebernachtet. Ob das mehr „awareness“ schafft und Loesungen bietet? Keine Ahnung.
@#748096: I doubt it
Zwei sehr wichtige Aspekte wurden ja im Artikel schon genannt: Solche Versuchspersonen haben immer im Kopf das es danach ja wieder heim geht und sie simulieren „nur“ die Obdachlosigkeit an sich. Drogen, Arbeitslosigkeit, fehlende legale Papiere, Analphabetismus und was der möglichen Probleme mehr sind treffen die Frewilligen ja nicht.
Zur „Awareness“-Schaffung saß ich mal im Rollstuhl – das brachte genau 0. Im Zivi jeden Tag mit Menschen im Rollstuhl zusammen zu sein – das schon.
@#748099: Ich würde die Awareness nicht mal unterschätzen, ich wusste ja zumindest nicht, dass Vancouver da so belastet zu sein scheint. Es kann nie Schaden, auf Probleme aufmerksam zu machen, ob es nun viel hilft oder wenig sei mal dahingestellt. Aber, es ist ganz richtig erkannt, dass diese Art der Awarness — der Protagonist setzt sich die Spritze, ich meine, bitte was?? – einfach falsch ist. Hätte er tatsächlich einen „authentischen“ Obdachlosen spielen wollen, hätte er nach drei Tagen einfach versuchen müssen, mit seinen bisherigen Qualifikationen einen Job zu bekommen. Und den hätte er wahrscheinlich auch gekriegt, weil er eben NICHT den Teufelskreis des sozialen Stigmas von Schulabbrecher bis zur Drogenabhängigkeit mitmachen musste.
Aber das scheint ja irrelevant und damit wird die Doku zur Farce.
Missstände. Da hätte er seinen Ar… mal ein paar Kilometer südlich bewegen sollen. Gleich über die Grenze in den USA, eine Autostunde von Vancouver DTES. In Bellingham im US-Staat Washington leben nach den neuesten Daten ein Viertel Bürger unter der Armutsgrenze. Von den jungen Erwachsenen fast die Hälfte.
typisch vancouver: selbst die versuche die oberflächligkeit anzuprangern sind oberflächlich. aber wir sind ja alle so hip und grün und so greenpeace und kitsilano und grouse mountain macht jetzt mit windturbine usw.
allerdings durfte ich in dieser stadt auch leute kennenlernen, die nicht nur aus leerer hülle bestehen, auch wenn ich darauf mit einigen ausgeschlagenen zähnen in dtes und einem gebrochenen kiefer beim kollegen hingewiesen werden musste.
Wegen Reisebüros, sowas gibt es schon. Ich bin gerade in Südafrika in Johannesburg, und habe hier einen kennengelernt, der für Touris Kneipentouren durch Soveto anbietet. Generell sind bei den Touris hier Busfahrten durch die Slums sehr beliebt. Also, was normaldenkenden Menschen als abwegig erscheint, gehört für andere zum Urlaub.