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Kraftklub, du coole Sau

Das ist ungewöhnlich. Ja, auch, dass ich hier nach Jahrzehnten mal wieder was reinschreibe, aber das meine ich nicht. Sondern: Es ist ungewöhnlich, dass Künstler*innen selbstreflektiert und klug agieren, sich selbst hinterfragen und – in der Öffentlichkeit – älter, aber dabei trotzdem nicht langweilig werden.

Ach, was schreibe ich hier um den heißen Brei herum, es geht um Kraftklub.

Denn als ich neulich das großartige, schöne, schlaue, charmante, witzige neue Kraftklub-Album KARGO zum dritten Mal durchhörte, stutzte ich plötzlich.

Häh?

Was singt Felix Kummer da in „Der Zeit bist du egal“?

Ein ‚War nicht so gemeint‘ macht nicht alles wieder gut
Nicht den Streit, die Zerstörung, die Wut
Nicht die Schmerzen, den Hass
Nicht den Stress und das Leid
Texte wie „Dein Lied“ und all die and’ren schlechten Zeil’n
So viele Sachen, die man leider erst zu spät begreift
Jede einzelne verpasste Gelegenheit
Immer neue Runden, jedes neue Jahr
Die Zeit heilt deine Wunden nicht, der Zeit bist du egal

Wow.

Ich weiß nicht, ob es jemals in der Geschichte der Rock- und Popmusik vorgekommen ist, dass sich eine Künstlerin, in diesem Fall ein Künstler, von einem Song in einem neueren Song distanziert hat. Klar, Menschen haben frühere Werke bereut, fanden sie im Nachhinein nicht mehr ganz so gut wie damals, aber das hier ist ein anderes Level.

Ich hatte 2017 über „Dein Lied“ einen Text geschrieben. Ich war nicht die einzige Person auf der Welt, die sich wegen des Songs in ihrer Liebe zu Kraftklub gekränkt fühlte, und ich habe keine Ahnung, ob die Band, ob Felix Kummer, den ich trotz meiner Abneigung gegen den Song für einen der besten deutschsprachigen Texter hielt und halte (und glaubt mir, ich bin ein Grumpy Old Man, wenn es um deutsche Rocktexte geht, ich habe eigentlich IMMER was zu meckern und kann es selbst leider nicht besser), meinen Text jemals gelesen hat, aber das ist völlig egal, denn es ist mir einfach nur ein Anliegen, nicht nur viel zu lange Schachtelsätze zu verfassen, sondern quasi als Update meinen tiefen Respekt auszusprechen für die oben zitierten Zeilen.

Soweit es machbar ist in diesen Zeiten, ist „Dein Lied“ aus den offiziellen digitalen Kanälen der Band verschwunden. Und nun auch noch dieses offene Bekenntnis zur Erkenntnis, dass der Text vielleicht damals irgendwie scheiße war.

Das ist extrem toll und wichtig. Denn die Band hätte das alles ja auch einfach unter den Teppich kehren können. Aber den Finger in die eigene Wunde zu legen … das zeugt von Größe. Und ist deshalb so cool, weil es zeigt: Wir machen alle Fehler, wir bauen alle Scheiße, und wer was anderes behauptet, ist ein Idiot oder hauptberuflich auf Twitter (oder beides, keine ungewöhnliche Kombination), wichtig ist nur, dass man nicht aufhört, über sich selbst nachzudenken und Stellung zu beziehen. Ein Leben, und damit auch künstlerisches Schaffen, ist keine Software, die jeden Tag gleich funktioniert und nur ab und zu ein Update erhält, sondern es ist ein Prozess. Scheiße wäre so ein Leben nur, wenn es stillstehen würde. Wenn es sich aber bewegt und entwickelt, dann ist es jeden Fehler wert.

Um das ganz deutlich zu sagen: Das hier ist kein „Hab ich ja gleich gesagt!“-Scheiß. Sondern reine Freude darüber, was für eine gute Band das ist, was für ein feiner Kerl Felix Kummer ganz offenbar ist. (Disclaimer: Wir kennen uns nicht, ich hab Kraftklub ziemlich früh mal interviewt, nachdem sie Nico schon 2010 auf dem Schirm hatte, aber das ist ewig her und seitdem sind wir uns leider nie wieder begegnet.)

Wir könnten die ganze Nummer ja noch ausweiten. Über Fehlerkultur oder – gasp! – „Cancel Culture“ reden. Über die Rolle von Social Media, über Shit Storms, über Wortklauberei, über Hiphop. Über Fynn Kliemann. Über Die Ärzte und Elke.

Aber ey, es geht hier jetzt erstmal nur um Kraftklub (ich nenne die ganze Band, weil die den Kram ja zusammen machen und mittragen), denen ich hiermit meinen Respekt und Dank aussprechen möchte. Die Zeiten sind scheiße gerade, so insgesamt. Schön, dass es euch gibt.

(Dank an Martin für das tolle Gespräch zum Thema, das der Auslöser dafür war, hier nochmal ein paar Sätze dazu zu tippen.)

16 Kommentare

  1. 01
    Christoph

    Etwas allgemeiner gehalten bzw. nicht auf einen Song im speziellen bezogen, aber die Beastie Boys haben sich 1994 in ‚Sure Shot‘ für ihre sexistische Kackscheisse aus den 80ern entschuldigt. Mehr dazu: https://slate.com/culture/2019/01/how-the-beastie-boys-made-amends-for-their-sexist-early-career.html

  2. 02

    Stimmt! Die Beastie Boys. Danke!

  3. 03
    Flo

    Hat Felix Kummer in seinem Soloprojekt übrigens schon einmal gemacht auch in Bezug auf „Dein Lied“. Im Song „Bei Dir“ heißt es:

    „Ich würde gerne sagen, ich hab‘ nix bereut
    Aber das Leben ist kein Coco-Chanel-Zitat
    Ich hab‘ der ganzen Welt gesagt, dass sie sich ficken soll“

    Ich teile übrigens alles was du schreibst, Kraftklub & Felix Kummer großartig.

    Gefühlt auch eh alle Kummers, bin auch riesen Fan von den Kummer Schwestern Nina & Lotta und ihrer Band Blond (und ihrem grandiosen Podcast)! Die machen auch richtig coole Musik, schreiben super Texte! Kann mir vorstellen, dass dir die Musik auch Spaß machen würde.

  4. 04

    Aber klar, Blond kenn‘ ick doch! :)

  5. 05
    ichier

    „dann ist es jeden Fehler wert.“

    Disagree.
    Siehe zitierter Text; es gibt Fehler, die hinterlassen irreversible hässliche Spuren.

    Niemand kommt als Priester zur Welt, aber es gibt einen Unterschied zwischen den Judith Holofernes und den Bushidos (sicher nicht der schlimmste, aber ich kenn mir nich aus) dieser Welt. Imho sind die Nichtfehler der ersteren deutlich wertvoller!

    Aus Fehlern lernen: jut!
    Bestimmte Grenzen nie übertreten: wär irgendwie geiler, oder?

  6. 06

    Das wäre natürlich viel geiler, stimmt, sehe ich genauso. Aber das klappt halt nicht automatisch, selbst wenn man sich das noch so sehr vornimmt. Um im Bild zu bleiben: Wahrscheinlich hat auch eine Judith Holofernes schon mal jemanden verletzt und bereut das.

  7. 07
    ber

    Frage für einen Freund: darf man als Ü40er noch auf ein Kraftklub Konzert oder ist das für das jüngere Kernpublikum total nervig?

  8. 08
    Denny

    @#2147501: :D lustige Frage. IMO: natürlich darf man, warum denn nicht. Ich war neulich als Ü40 auf einem Kotzreiz-Konzert, da war von 16-69 alles vertreten. Was solls. Der Musik ist dein Alter egal. Und wenn es anderen Leuten nicht egal ist: deren Problem.

  9. 09

    Man kann ja hinten stehen und so tun, als gehöre man zur Plattenfirma. :)

  10. 10
    markus

    Endlich mal wieder Spreeblick im Feedreader. Hach!

  11. 11
    ber

    @#2147510: Stehen? Gibts da keine Rollator-Area?

  12. 12

    (Diese „Antworten“-Funktion ist leider kaputt.)

    Rollator-Area kostet sicher bald Aufpreis …