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Leitkulturen

karneval der kulturen

Am Strassenrand stehe ich, beseelt von der glamourösen Vielfalt der Welt. Afrika, Asien, Lateinamerika (!), Europas Osten, Westen, Norden, Süden, alle sind sie da.

Bunt und schillernd in selbstdarstellerischem Überschwang, zwischen perfekt inszenierter Professionalität und atemberaubend mutiger Selbstvergessenheit ist alles vertreten.

Brasilianische Schönheiten mit makelloser, von einer handvoll Pailletten bedeckter Haut vibrieren an mir vorbei, Thailänderinnen lächeln entrückt unter schier unfassbarem Kopfschmuck, gleichsam über den Asphalt gleitend, gefolgt von nicht minder erhabenen Herrlichkeiten in Schuhgröße 45. Ein afrikanisches Trommelgewitter verleitet seine Gefolgschaft zu Schwindel erregenden Kapriolen und bebenden Becken und wieder stellt sich mir die Frage, welchen Trick man anwenden muss, um sich derart perfekte Hintern wachsen zu lassen.

Dann kommen chinesische Drachentänzer. Wow! Wo bitte übt man das denn?

Es sind Kinder dabei und Menschen, die man, wo ich herkomme, maximal noch zur Seidenmalerei ermuntern würde und das Ganze nimmt und nimmt kein Ende. Es mag sein, dass mir etwa ab Wagen Nummer 235 ein Maß an Wohlwollen abverlangt wird, das ich mir um diese Uhrzeit noch nicht antrinken mag, fest steht aber doch:

Kohlsuppe und deutsche Braukunst sind sicher auch was Leckeres und man kann bestimmt zu HumpaHumpaHumpa-Täteräää ne prima Polonaise schunkeln, wenn einem danach ist, dennoch bin ich froh und dankbar, dass ich meine Ursprungskultur innerhalb der gegebenen Konkurrenz nicht zu Markte tragen muss.

Man könnte neidisch werden, wenn man nicht wüsste, dass ein Grossteil der tanzenden Buntvölker nicht wegen des guten Wetters und schon gar nicht ob des freundlichen Klimas in Deutschland ist.

Der Karneval der Kulturen ist auch eine politische Veranstaltung, denn er zeigt: niemand, der sich aus Not, Bedrohung oder Angst in dieses Land flüchtet kommt mit leeren Händen und so gesehen ist Nehmen manchmal seliger denn Geben.

Dankeschön!

(Fotos © Barbara Seyerlein, Frank Löhmer)

28 Kommentare

  1. 01
    BelMondo

    P.S:Good old Europe!

  2. 02

    Länder ohne Zugereiste sehen aus wie die Staaten des ehemaligen Ostblocks. Als es den Ostblock noch gab. Zuwanderung ist ein Kompliment an das neue Land. Sogar George Bush gibt sich offener gegenüber Zuwanderung als die Union. Die Christliche.
    Unfair allerdings, die Pracht gegen Kohlsuppe und Trachtenjankerl antreten zu lassen. Deutsche Kultur ist Elektro, Grundgesetz, die Frisuren von Tocotronic und – seit neuestem offiziell- Spreeblick ja nun auch. (Aufzählung nicht zwingend logisch, nach Relevanz oder sonst irgendwas). Und damit würde ich Deutschland dann auch beim Karneval der Kulturen antreten lassen.

  3. 03

    Menschen, die man, wo ich herkomme, maximal noch zur Seidenmalerei ermuntern würde

    Ich empfehle einen Besuch bei Rambazamba: ganz großartiges Theater.

    (Ansonsten hastu natürlich recht).

  4. 04

    Nur schade, dass man den KDK (deutscher Abkürzungsfimmel) nur in der Kreuzberger Multi-Kulti-Matrix sicher stattfinden lassen kann.

    @Malte
    Du musst auch mal wieder zum Friseur.

  5. 05

    Karneval der Kulturen ist wirklich eine ganz tolle Veranstaltung und müsste eigentlich in jeder deutschen Grosstadt zu einem festen Brauch werden. Hier kann friedlich aber demonstrativ ein Zeichen gegen Rechts gesetzt werden. In vielen Städten gibt es ja auch schon so was ähnliches Bsp. Frankfurt a. Main.

  6. 06
    BelMondo

    Mein Vison der Leitkultur ist, rein, ehrlich, glücklich, stilvoll, schön, körperbewusst, INTELLIGENT, aufgeklärt, erleuchtet ff…

    P.S: Bedingungslose Liebe und so….. No Hate, No Fear!

  7. 07

    @ Spork
    Du bist nicht auf dem neusten Stand ;)

  8. 08

    Malte, ich würde niemals miesepetern, Deutschland sei eine Kulturbrache, es ist aber schon ein grosser Unterschied, wie unverkrampft Jugendliche anderer…äh Kulturen alte Traditionen weiterverarbeiten und in diesem Sinne fortsetzen.
    Techno und Tocotronic zeichnen sich ja eher durch das Schaffen einer Gegenkultur aus und zum Grundgesetz lässt es sich, trotz Grossartigkeit, einfach nicht wirklich gut tanzen : )

  9. 09

    ach blöd, du hast recht :(

  10. 10

    Interessant ist, dass in vielen der oeben aufgeführten Länder ein solcher Karnevall der Kulturen nicht stattfindet, wohl da man schon vor der Hasutüre auf eine vielschichtige und bunte Kulturenvielfalt trifft. Wenn aber Dank der Weltmeisterschaft dieses Jahr der Regenbogen im grauen Deutschland endet, sollten wir uns alle über das Gold freuen und uns einen Erfahrungstaler mit nach Hause nehmen. Es liegt nicht nur an den schon lange hier lebenden Freunden – die in der Heimat immer wieder die deutsche Kälte dementieren – unseren Gästen eine funktionierende Mischkultur zu demonstrieren; auch wir sollten unserem Erbe keine Ehre machen!
    Zur Erklärung: Ich bin Jude, Protestant, Deutscher, Brasilianer, Enkel eines Nazi-Opas und Enkel eines Juden.
    Wenn jemand Fragen hat, wie zum Bespiel Menschen in Brasilien auf Deutsche zugehen, schreibt mir eine Mail.
    Rinjehaun

  11. 11

    Also von Spreeblick hätte ich aber jetzt ein originelleres Klischee über die deutsche Kultur erwartet als Oktoberfest-Gaudi.

  12. 12

    Hach ja, das kulturlose Deutschland. Beethoven, Bach, Mendelssohn-Bartholdy, Schuhmann, Goethe, Schiller, Kafka, meinetwegen auch Max Goldt, Schubert und Mozart und Mahler wenn man die Oesterreicher mitzaehlt, Brecht, Hesse, Mann, und viele viele mehr.

    Echt schlimm. Und das wird im Ausland auch nicht im geringsten anerkannt. Nee, echt jetzt. Von all diesen hat man im Ausland noch nie gehoert. Wirklich nicht.

  13. 13
    sunny3d

    @belmondo – mal abgesehen davon, dass ich mich die ganze Zeit schon über frage, was du mit bedingungsloser Liebe meinst – so kriegste mich nicht – mein freund – so frage ich mich erst recht – was du da gerade erzählst. Rein – und intelligent – hasste ja auch extra groß geschrieben – willst wohl provozieren – he? :-)

    s.

  14. 14

    @Armin: es ging mir um die Präsentation lebendiger Kultur traditionellen Ursprungs.
    Mit allem anderen hast du Recht, keine Frage!

  15. 15

    Tanja, gibt’s doch auch, z.B. Finkwarder Speeldeel oder die Vierlaender Speeldeel oder die Vierlaender Trachtengruppe (mal kurz ein bisschen rumgegooglet). Und sogar in grosser Vielfalt, denn diese Beispiele sind auch nur auf eine kleine Region beschraenkt.

    Nur wird das nicht anerkannt und als „altmodisch“ oder sonstwas abgetan. Hier ist Eurer Problem, der Respekt vor der eigenen Kultur, das Leben der eigenen Kultur.

    Sowie das gleiche aber woanders herkommt, ist es was ganz tolles und exotisches. Wenn aber mal nachdenkt und genauer hinsieht ist das auch nur lokales Brauchtum, eigentlich also das gleiche wie oben angemerkt. Nur wird es gerade in Deutschland (und da vermutlich vor allem in den Grossstaedten) von wenigen Leuten praktiziert und am Leben erhalten.

    Wuerde mich nicht wundern wenn in laendlichen Regionen auch und gerade in Deutschland eine vielfaeltige traditionelle Kultur lebt und vielleicht sogar gedeiht.

    Muesste man sich nur mal fuer interessieren und vielleicht sogar drueber bloggen. Wie waer’s mal ein paar Videos von norddeutschen Volkstaenzen bei YouTube hochzuladen und sich nicht drueber lustig zu machen, sondern mitzutanzen und sich mitzufreuen? Nicht meckern, sondern machen.

  16. 16

    Naja, Armin. Ich glaube, dass das Brauchtum hier bei uns tot ist. Ein für alle mal. Und mit Wiederauferstehng schaut es schlecht aus. Vielleicht weil wir irgendwann als es starb, so nach 1900, irgendwann da verpasst haben, es rüberzutransportieren in unsere Zeit.

    Jetzt ist es – zumindest in unserern Köpfen – altmodischer, wertloser Unsinn, den man nicht wieder lebendig kriegt. Und das wird es bleiben. Wir haben kein Brauchtum, das wir (oder bloß ich?) akzeptieren würden, und so brauchen wir anderes, vielleicht auch als Inspiration?

  17. 17

    Michael, ich glaube gar nicht mal dass Brauchtum in Deutschland tot ist oder nicht wiederbelebt werden kann. Gerade in laendlichen Gegenden duerfte da noch einiges vorhanden sein, auf dass sich was aufbauen lassen koennte.

    Das Problem ist eher eine Frage Jugendliche und Kinder unverkrampft dort einzubinden und vielleicht auch von den Brauchtumsverbaenden etwas offener und flexibler zu sein. Vielleicht braucht es nur ein paar junge Leute die das ganze irgendwie cool machen und dann kommt das von ganz alleine. Irgendwie muessen halt die Angebote geschaffen werden und vor allem muessen die Beruehrungsaengste und die Verkrampfung raus aus den Koepfen.

  18. 18
    Jens

    Ich erinnere mich immer an einen Karnevalszug in Münster vor drei oder vier Jahren. Dort waren viele niederländische Gruppen mit dabei. Die hatten ihre Wagen extrem bunt und ausgelassen gestaltet und auch die dazugehörigen Leute waren offensichtlich nur da, um Spaß zu haben. Zwischen den Holländern marschierte dann ein deutscher Vorort-Flöten-Spielmannszug nach dem anderen in Uniform und im Gleichschritt mit ernsten, grimmigen Mienen. Da bitte ich doch herzhaft: Überfremdung! Sofort!!! Bitte!

  19. 19
    BelMondo

    @ Werden in Brasilien eigentlich immer noch StraßeKinder eingesammelt und getöt, wie in anderen Ländern StraßenHunde?
    Kann mich daran erinnern, daß es sogar von einem großteil der Bevölkerung getragen wird. Armes LAnd….

  20. 20
    Admir.

    Achja, Striekampf….

  21. 21
    Admir.

    Meine Empfehlung, Georg Kreisler.Die Schizophrenie…

  22. 22
    BelMondo

    Georg Kreisler, Österreicher?

  23. 23

    Mhm, da habe ich doch gestern eine andere Interpretation zu dem Umzug gesehen: – Ein Anteiliger der „anderen“ Kulturen war gar nicht angetan:

    Da die Strecke bei mir in der Nähe vorbeizieht, konnte ich den Zug zum Teil beobachten.
    Das einzigste was ich sah, war, eine Masse an zumeist betrunkenen Menschen mit Bierdosen in der Hand, die sich, für mich zu lauten brasilianischen Klängen, und halbnackt tanzenden Frauen rhythmisch bewegten.

    Ich frage mich immer, wo die Kulturen dort sind…

    Ich stimme mit der Ansicht nicht überein, aber es hat mir zu denken gegeben: Inwieweit ist so eine Veranstaltung eine „Sonderveranstaltung“? – Ist das ein Beispiel unserer „alltäglichen“ kulturellen Vielfalt? – Es gibt Angehörige anderer Kulturen, die hier Leben und gerade sowas ablehnen.

    Wir selber nehmen gerne, glaube ich, das Liebige als Beispiel unserer Weltoffenheit, das Misliebige wird ignoriert.

    Und in D. gibt’s genug lebendiges „Brauchtum“, sowas wie „Osterfeuer“ wird breitflächig von allen möglichen „normalen“ Leuten betrieben, – oder der mitlerweile traditionelle „Geisterzug“ beim Kölner Karneval – alternativ, nachts, kreativ, anarchisch und echt.

    [Ok, mußte ich gerade mal loswerden.]

  24. 24

    Ich finde auch: Kultur ist doch nicht unbedingt immer der „Holzschuhtanz“ oder was auch immer – Bräuche ändern sich nun einmal mit der Zeit und manche verschwinden auch einfach, weil z.B. deren gesellschaftliche Notwendigkeit nicht mehr gegeben ist.
    In Deutschland ist es vielleicht auch der Bruch, des „Dirtten Reiches“, der die Verbindung zur traditionellen Kultur hat abreißen lassen.
    Hier sind meiner Meinung nach die gleichen Effekte am Werk, die auch die schwierige Einstellung der Deutschen zu dem bewirken, was man anderswo Nationalstolz oder Patriotismus nennt.
    In einem Land, in dem ein System, das den Trend von Volkstümelei und Nationalismus, dem beharren auf der Tradition als Gefühl der Überlegenheit ausgenutzt hat, um die schlimmsten Verbrechen seit Menschengedenken anzurichten, ist es meiner Meinung nach nachvollziehbar, wenn die betroffene traditionelle Kultur zunächst einmal einen schlechten Ruf hatte (so schade dies auch sein mag). Ist dem denn auch so? Mir kommen da gerade die vielen Heimatfilme der 50er in den Sinn. Spätestens die 68er aber haben mit der Vätergeneration des Krieges aufgeräumt.
    Aus dieser Perspektive lassen sich die Beweggründe einer „Gegenkultur“ durchaus begreifen – die Frage ist nur: Ist Gegenkultur nicht auch Kultur? Kann nicht auch sie zur typischen Kultur werden? Der Kulturbegriff ist meiner Meinung nach heutzutage sehr problematisch zu diskutieren: Die VIelfalt der Interpretationen ist einfach zu groß.
    So, nun aber genug monologisiert – jemand dafür oder dagegen?

  25. 25

    Richtig Bubisch, ich denke auch Deutschland definiert sich hauptsächlich durch diese Gegenkultur bzw. den Unpatriotismus, aus bekannten Gründen. Deutschland definiert sich auch neu als amerikanische Kultur(kolonie) seit 1945; englische Worte, amerik. Filme, die Übernahme vom Bild der vermeintlich typische amerik. Familie in Mickymaus (Apfelkuchen, Briefkasten mit Fahne, usw.). Wenn man dann bedenkt das viele deutschsprachige Künstler und Intellektuelle im/ vorm 3. Reich ausgewandert sind (Billy Wilder, Marlene Dietrich, Einstein, wobei ich jetzt die Biographie der Leute nicht genau kenne, aber ich denke doch es gab da einen Auswanderungs/Einwanderungsstrom), ist einiges der amerik. Kultur aber dann auch wieder irgendwie deutsche Kultur.

    (National)stolz bzw. Patriotismus würde für mich z.B. bedeuten, das ich einem Gast meine Wohnung zeige, dann meine Stadt, dann meine Freunde, dann mein Land und dann meine Sprache, und das ich mich irgendwie mit alldem mehr oder weniger identifiziere. Das ist die Art von Patriotismus, die ich im Ausland kennengelernt habe, und es war immer eine freundliche, aufnehmende Geste. Diese Art von Stolz kenne ich in Deutschland nicht, auch wenn sie bestimmt so halbunterdrückt unter vielem schwelt, und sich wiederum oftmals in krassem Unpatriotismus äussert (oder in krassem und dummen Nationalismus). Patriotismus bedeutet natürlich auch, sich soweit mit dem Land zu identifizieren, das man Mißstände „persönlich“ nimmt.

    Aber vielleicht musste es so kommen; Deutschland hatte eine irgendwie gefährliche Kultur, die kulminierte in etwas richtig bösen, diese Kultur wird dann weitgehend abgestreift und Deutschland wird in der heutigen globalvernetzten Kultur zu echten Weltbürgern. Da kann man ja fast wieder stolz drauf sein…

  26. 26

    Ich stimme Größtenteils zu – Naja, falls Du auf den „Deutschen Sonderweg“ anspielst, würde ich zur Vorsicht mahnen. Ich grüble auch schon seit ich mich mit dem Thema beschäftige darüber nach: Sind wir wirklich so anfällig dafür? – Eine Frage, für die man wirklich auf beiden Seiten der Meinungsskala gute Antworten finden kann.
    Ich persönlich habe da eine Konsequenz gezogen: Ob Sonderweg oder nicht: Wir Deutschen haben meiner Meinung nach eine Erblast zu tragen – nicht im Sinne einer ewigen Schuld (diese Generation ist ja fast ausgestorben), sondern im Sinne einer ewigen AUFGABE, zu erinnern und wachsam zu bleiben.
    Das Problem der heutigen Multikulti-Debatte ist (neben dem Problem, dass Toleranz oft mit Gleichgültigkeit verwechselt wird): Wie ich finde wissen wir selbst noch immer nicht so recht, wer wir sind und wo wir stehen – wie soll ich da jemand anderen akzeptieren, wenn ich mich selbst nur schwer akzeptieren kann? – Ich denke, dies ist auch der Hintergedanke der „Leitkultur“ – dieser Begriff soll ja nicht definieren, wie man zu tanzen hat, sondern dass es in Deutschland eine zu beherrschende Amtssprache und gewisse Grundwerte gibt, an die man sich zu halten hat. Innerhalb dieses Rahmens soll doch jeder nach seiner Facon glücklich werden.

  27. 27