Da steht er, wie ein Alpenmassiv, vor dem Schachbrett. Seine Schultermuskulatur spannt und entspannt sich, spannt und entspannt sich; fast kann man die Muskelfasern zählen, die sich durch das weite, marineblaue NKD-T-Shirt abzeichnen. Er atmet ein, er atmet aus; ruhig, wie schlafende Katzen es tun.
„Von dem möchte man nicht in den Arm genommen werden“, hatte Piotre gesagt und sich die Stirn gerieben. „Noch ein Augustiner?“ Noch ein Augustiner. Was sollte man auch machen in München, im Sommer 2003, unter der Woche, abends nach elf. Wir saßen oft an der Münchner Freiheit, bei den großen Schachfeldern, unter den ganzen Gescheiterten, die Schach spielten und Augustiner tranken, anderen beim Schachspielen zusahen und Augustiner tranken oder Augustiner tranken. Geredet wurde selten: worüber auch. „Ich geh zum Kiosk, das Bier holen“, sagte Piotre, und dann ging er zum Kiosk, das Bier holen. Mann der Worte, Mann der Tat, dieser Piotre. So mag ich das.
Da dreht er sich um, und sein breites Grinsen verdeckt fast die hässliche Narbe, die sich einmal quer über die rechte Wange zieht. Seine Augen rollen, er streckt sich. Es knackt, Stille.
Am mittleren Schachbrett verliert der alte Tscheche mit den Cordhosen, das war selten. Selbst wenn er gewann, versteckte er sich in den zu weiten Hosen, in den zu weiten Pullis, und wahrscheinlich hätte er sich gerne an den Horizont gestellt. Er hatte die rechte Flanke zu sehr vernachlässigt und den Turm nicht kommen sehen: es sah schlecht aus. „Das war ja schon nach dem fünften Zug klar“, sagt einer, und der Tscheche sieht sich in die Hände und spricht, leise: „Ich weiß.“
How are you?, fragt er, und seine große schwarze Hand fährt bedächtig über die Stirn. Fine?
I“™m fine, sage ich, I“™m alright. What about you?
I“™ searching my kids, sagt er. Got some kids in Europe, you know. Want to know how they are. Do you have cigarettes?
Er kommt aus einem kleinen Dorf in Angola, aber da war er schon lange nicht mehr gewesen. Seit fünfzehn Jahren nicht mehr. Not much work over there, sagt er, not much work.
– So what did you do?
– I travelled. I travelled through Angola, Ruanda, Sierra Leone.
– There was a lot of war over there.
– That“™s why I travelled there.
– As a journalist?
– As a mercenary.
Münchner Freiheit, Sommer 2003, und der dicke Typ, der immer so schwitzt, wie ein Schwamm, fuchtelt wieder mit seiner Taschenlampe rum. „Den Bauer musst Du wegziehen, zieh den Bauern da weg, verdammt noch mal, dann is vielleicht noch ein Remis drin.“, und der Tscheche zögert, murmelt, wischt sich die Hände am T-Shirt ab, fährt sich durch die Haare. Murmelt. Zieht den Bauern.
– I saw many people dead, you know. Many people. My best friend died in Sierra Leone, pulmonic shot. I was right next to him, when he died. That“™s the way it is.
– What about your children?
– Me, too. I killed many people, you know. Many people.
Abdul zeigt auf das Pferdchen und kichert. Adbul kicherte immer. Vor einigen Jahren hatte beim Oktoberfest eine Maß über den Schädel gezogen bekommen: Schädel-Hirn-Trauma, Halbseitenlähmung, Sprachzentrum im Eimer. Außer gugu und dada und ein bisschen Kichern kam da nichts mehr raus: Und trotzdem, von den ganzen abgerissenen, tiefäugigen Augustiner-Trinkern hier, nachts, Sommer 2003, an der Münchner Freiheit, war er der einzig glückliche. Denn er mochte Pferdchen.
– You see that man over there?
Er zeigt auf den Tschechen.
– I do.
– This man would burn very well. Not much water inside: he would not even suffer. Just a bit.
– A bit.
– I know those people. You should hear them screaming when they burn. Incredible, those screams: Just like they make night frozen.
Er betrachtet mit stummer Miene den Damentausch: der Tscheche hat noch nicht aufgegeben. Der andere, der kleine nervöse mit den abstehenden Ohren, steht hinten nicht so sicher: Vielleicht könnte eine kleine Springer-Läufer-Kombination da noch was rausreißen. Der Tscheche denkt nach. Vielleicht geht da noch was.
– See that? Er zeigt auf eine Narbe überm Schulterblatt. Angola. A graze. I was young, I had no experience, so they got me. The others.
– The rebels?
– Whatever.
Seine Hände sind beinahe durchsichtig: schmale, langgliedrige Finger. Klavierspielerhände, denke ich, wie Ebenholz. Wenn man draufhaut, brechen sie, denke ich. Wenn man bloß ein ganz klein wenig draufhaut.
– It“™s amazing, that feeling. It“™s just great.
– What.
– To kill people. It“™s incredible, you know. Powerful, deep. Incredible.
– Why are you telling me this?
– Why not?
Das wars, da steht ein Bauer vor dem Durchbruch. Da ist nichts mehr zu machen. Stummen Schritts geht der Tscheche auf seinen König zu und legt ihn behutsam auf die Seite. Dann wischte er sich die Augen. Abdul kicherte. „Dach Matt.“
– What about your children?
– I just saw two of them. One is in Passau, the other in Munich. I just came from his mothers house.
– How are they?
– Don“™t know. It“™s a Baby. It screams a lot, you know.
– And the other kid? The one in Passau?
– He“™s a dump, nothing to do. Sitting all the time in front of his computer playing stupid games, war games.
– You don“™t like war games?
– It“™s a game, man. Just a game. It“™s dump.
Jetzt will der Dicke mit der Taschenlampe spielen, aber Abdul hat sich das Pferdchen gekrallt und rennt die Cafeterrassen entlang. „Dada“, schreit er und kichert, „dada“. Der Dicke flucht, und schreit, und flucht. „Verdammte Scheiße, Abdul. Jetzt gib den Springer her, verdammt.“ — „Gugu.“
– I“™ll have to go. Got to catch a train, you know.
– Have a nice journey.
– Thanks.
Er steht auf, streckt die Glieder, schließt kurz die Augen und dreht sich hin zu mir. Dann nimmt er meinen Kopf in seine Hände, senkt sein Gesicht zu meiner Stirn, küsst den Haaransatz und sagt:
– Don“™t forget to be a man.
Piotre kommt wieder, mit dem Bier. Das klimpert doll, und seine Augen klimpern auch. „Ich mach Dir mal das Bier auf“, sagt Piotre und macht mir das Bier auf. Guter Mann, das.
– Was wollte der denn von Dir?, fragt er, dem Legionär nachsehend.
– Keine Ahnung.
Ich trinke einen tiefen, langen Schluck.
– Keine Kinder, jedenfalls.
Dump? Dumb, oder? Ansonsten interessanter Text. Ich zog im Herbst 2003 nach München, wohne jetzt ganz in der Nähe der Freiheit. Muss mal Ausschau halten, ob die eine oder andere Nase noch spielt.
Stark!
Endlich mal wieder ein !Text!
@#648938: Dank, is verbessert.
ich schlage hiermit ein re-enactment der obigen geschichte vor. life imitates spreeblick, münchener spreeblick-schachtreffen oder was auch immer.
ach ja: da steht immer noch „dump“.
Ich bin ja auch bescheuert…
Allerdings komm ich die nächste Zeit nicht nach München und weiß gerade nicht, ob ich das gut oder schlecht finden soll.
Bist Du sicher, dass der Legionnär gesagt hat: „I’m searching my kids“ und nicht vielleicht „looking for“? Zumindest beim Säugling sollte das Durchsuchen ja schnell gegangen sein, aber das Finden könnte erstmal ein Weilchen gedauert haben…
@06:
Vielleicht sprechen angolanische Söldner ja nicht immer perfekt Englisch. ;-)
SCNR
Vielen Dank, Flusskiesel, den werd ich mir merken. Leider liegt es vermutlich eher an meinem Englisch, aber hey.
Ich lass das mal stehen.
Streitet euch doch nicht über das Englisch, der Text ist viel zu gut dafür! Mehr davon.
Super Text. Vielen Dank.
Was heißt: „Just like they make night frozen.“
Na sowas wie: da gefriert einem das Blut
„Ein Stück aus dem Leben“ sagt man heute zu sowas, oder?
Dem „mehr davon“ weiter oben möchte ich mich anschließen.
Wow, selbst bei euch bekommt man die ungewollte Realität um die Ohren gehauen.
Das beste was ich bisher bei Spreeblick gelesen habe.
Toller Text.
@ Frédéric: Du hast Englisch sozusagen als Dritt-sprache, oder?
@#649600: Wenn überhaupt… Nee, im Ernst: Seit ich mir die drei Lost-Staffeln auf Englisch reingezogen hab, gehts wieder einigermaßen. Einigermaßen.
@frédéric: das scheint mir ein verbreitetes hobby, im moment: http://volkerstruebing.wordpress.com/2008/01/16/lost-in-24/