Ich bin ein Kind und spiele am Strand mit einem aufblasbaren Ball von Mc Donalds.
Ich trage ein Badetuch als Umhang und mein Vater wirbelt mich durch die Luft, ich bin Batman.
Ich sehe etwas Rosafarbenes zwischen den Beinen meiner Mutter und ahne, dass mich das noch länger beschäftigen wird.
Ich kann lesen und lese alles.
Ich war ein Kind, jetzt kenne ich Jeansmarken und küsse mit Zunge, sehr feucht und in die falsche Richtung. Dass es die überhaupt gibt.
Ich fahre in die Leitplanke, ich bin gerne Jurist, versuche bei Bundeswehrgeschichten an der richtigen Stelle zu lachen, höre auf damit, schreibe über Fußball und dazwischen einiges an Rosafarbenem.
Ich liege hier.
Wo ist nur die Zeit geblieben, hat meine Mutter auf der Beerdigung meines Vaters gefragt.
Am dritten September 1939 stand meine Mutter früh auf, denn es war ihr vierter Geburtstag. Aber niemand interessierte sich dafür, denn es war Krieg.
Dann hungerte meine Mutter, ihre Knie waren dicker als ihre Oberschenkel, sie wurde verschickt auf das unbombardierte Land und als der Krieg aus war, hatte ihr Vater, der sture Kommunist, Geld für Zigaretten, aber keins, um das hochbegabte Kind aufs Gymnasium zu schicken.
Sie zog nach London, swingte mit einem großen, schönen Pakistani und bekam zwei erst kleine, dann immer größer werdende Töchter, geriet in Konflikt mit dem Koran, zog zurück nach Deutschland, war working poor noch bevor das in Mode kam.
Dann verliebte sie sich in meinen Vater, sie bauten ein Haus, bekamen einen Sohn, fuhren an den Strand, hatten Siebziger-Jahre-Frisuren, die ich heute auftrage. Dann verschwand die Zeit und meine Mutter reiste durch die Welt, in Länder, die nie zerbombt worden waren, in Pionierländer und hätte jemand die Zeit zurückgedreht, meine Mutter wäre als junges Mädchen ausgewandert, ganz weit weg, auf Nimmerwiedersehen.
Aber niemand drehte die Zeit zurück und stattdessen begann der Krebs in ihr zu wuchern.
Ich stehe vor meiner Mutter und helfe ihr auf den Toilettenstuhl. Sie bringt es nicht über sich, in die Windeln zu machen. Aber sie kann nicht mehr richtig sitzen, sie läuft aus und bekommt keine Luft mehr und am Ende muss ich dankbar sein, dass sie erst ein paar Tage später stirbt, im Bett.
Und die Zeit? Die ist vorangeeilt. Wie immer.
Des ischt traurig…
Könnte ich mich so ausdrücken wie Du, hätte ich vielleicht ein ähnliches Posting verfasst in meinem Blog. Meine Mutter ist jetzt seit etwa acht Monaten tot und erst in diesen Tagen hab ich das Gefühl, da überhaupt drüber schreiben zu können. Schöner Beitrag zu dem denkbar unschönsten Thema, Malte…
ich kann doch nicht im office heulen. das ist traugig, ja.
Eine sehr traurige Geschichte die wunderschön geschrieben ist. Solche Texte rufen mir immer ins Gedächtnis das das Leben immer viel zu kurz ist. Genießt den Tag, Leute!
Danke für diese Geschichte. Hatte noch das Lachen von den „aufgetragenen Frisuren“ im Hals…. jetzt muss ich raus aus dem Büro ne Runde Tränen trocknen.
Und weil ich dazu jetzt gar nichts schreiben kann, was es auch nur annähernd träfe, sage ich jetzt einfach nur, ich bin froh, dass Deine Mutter und Dein Vater diesen kleinen Batman in dieses Leben geschickt haben. Keine Ahnung ob Du überhaupt weißt, wieviel Du mit Deinen Texten ab und an zu geben vermagst.
Das Schicksal der Mutter beschäftigt uns Söhne immer
über Gebühr.*schnüff*
..
Ich sehe etwas Rosafarbenes zwischen den Beinen meiner Mutter und ahne, dass mich das noch länger beschäftigen wird.
..
fein.
uff. wow.
@ axel: die töchter übrigens auch.
danke malte, auch wenns nicht gerade tröstet.
@heidrun (11):
aber anders – siehe @500beine (09)
das schicksal deiner mutter ist für dich eng mit ihrem geschlechtsteil verbunden??
interessant :)
@heidrun(13)
Mit dem Geschlechtsteil sicher nicht. Wohl aber mit dem Geschlecht!
Das ist das Traurigste aber auch das Schönste was ich jeh gelesen habe…
Hoppla, der Text ist exzellent.
Am Montag, beim Hausarzt, war vor mir eine alte Dame dran, sie hatte ein Betreuerin dabei die sie beim Gehen stützte und ihr beim Aufstehen half. Nach nem EKG (oder wer weiß was) sollte sie noch warten, dann kam die Schwester raus und sagt, sie solle nochmal ins Krankenhaus, weil sich bei den Herztönen etwas verändert hat. Da sagt die alte Dame, ich geh nicht mehr ins Krankenhaus, ich will nur noch sterben.
Man, macht mich das traurig, wenn ich das hier aufschreibe bekomm ich feuchte Augen. Jedenfalls hat die Ärztin sie dann doch überzeugen können alles im Krankenhaus zu überprüfen.
@ erik: bei alten leuten wiederum finde ich, dass das auch oft etwas sehr friedliches hat. wenn ich solche probleme beim bewegen und mit der gesundheit und 80 oder nochwas jahre aufm buckel hätte, würde ich auch irgendwann nicht mehr mitspielen wollen. die leute, die sowas sagen, haben sich in der regel ja mit dem tod beschäftigt und keine große angst/reuegefühle etc.mehr. die können friedlicher gehen als so mancher kranke, der noch nicht das gefühl hat, lange genug dagewesen zu sein.
auch wenn z.b. ich meine eigene großmutter sehr ungerne gehen lassen würde, weiss ich doch, dass ich das akzeptieren muss, und hin und wieder spricht sie das auch aus, dass sie nicht mehr so überaus lange leben möchte…
ganz wunderbar übrigens zum älterwerden, zeitvergehen, kranksein und sterben das buch „älter werden“ von silivia bovenschen, dass ich mir ja übrigens auf grund dieses links http://www.spreeblick.com/2008/08/19/spaziergang-mit-einer-kranken/
gekauft habe.
Schön, dass du Sprache so gebrauchen kannst. Wünsch dir, du gehörst zu den wenigen, denen vom Schreiben selbst wohler wird.
WIr sind bei Dir.
Meine Ma: 11.1.08: Schlaganfall. Wachkoma.
Unsere Siebziger sind jetzt.
Können wir noch was richtig machen?
Ich sitze in meinem Zimmer auf dem Bett und schaue fern. Im Wohnzimmer sitzen meine Eltern auf dem Sofa und schauen sich an. Ich stehe im Türrahmen, schaue meine Eltern an, wie sie sich anschauen. Ich sage ihnen zum ersten Mal, dass ich sie liebe. Sie lächeln, ich schaue wieder fern.
Meine Mutter setzt sich zu mir. Das merkwürdige Geräusch, das wie ein kaputter Abfluss klingt, bemerken wir erst nach einigen Minuten. Ich stehe in der Badtür, und mein Vater liegt auf dem Boden. Er reagiert nicht, und ich bin plötzlich so ruhig und konzentriert und organisiert wie noch nie zuvor. Ich drehe ihn auf die Seite, wie man das beim Erste-Hilfe-Kurs für den Führerschein lernt, doch ich ahne, dass das hier nicht gut ausgeht.
Ich instruiere meine Mutter, was sie tun soll, setze selbst den Notruf ab, informiere die Feuerwehr über alles Wichtige. Die Sanis kommen rein, wir setzen uns ins Wohnzimmer aufs Sofa, auf das Sofa, auf dem meine Eltern vorhin gesessen und sich angesehen haben, als ich ihnen zum ersten Mal sagte, dass ich sie liebe. Ich sehe in der Scheibe die Spiegelung der Sanis, die auf dem Brustkorb meines Vaters rumdrücken. Ich weiß, dass das hier kein Happyend wird.
Mein Vater ist tot. Die Sanis räumen wortlos auf. Ich gehe hinterher und bedanke mich. Es ist mir ein Bedürfnis, mich zu bedanken. Sie wollen das anscheinend nicht, sagen aber nichts. Ich setze mich im Regen auf unsere Terrasse rufe meine Freundin an, heule hemmungslos am Telefon und bleibe im Regen sitzen, bis sie da ist.
Nachts gehe ich zu meinem Vater, der auf dem Fußboden im Wohnzimmer auf den weichen Decken liegt. Es brennen keine Kerzen. Ich gehe hin, schaue meinen Vater an, küsse ihn auf die Stirn und gehe ins Bett. Und schlafe. Und wache am nächsten Tag auf und gehe durch die Gegend und denke darüber nach, wie es wohl wäre, wenn demnächst meine Mutter sterben würde.
Aber meine Mutter weiß, wann sie sterben wird. Mit 80 friedlich im Bett. Hat ihr eine polnische Wahrsagerin prophezeit. Und wie sieht meine Prophezeiung aus? Meine Website wird nach meinem Tod einen 404 anzeigen, weil keiner den Webspace bezahlt hat.
Gute besserung…
Einschlafen ist eine Art die nur wenige erfahren dürfen und jene welche sie Erfahren können sich glücklich schätzen.
Hoffentlich ohne oder mit wenig Schmerzen
Was sind das eigentlich für Maßgaben, die ihr euren „Positionen“ zu geben gedenkt? Teilt ihr einfach eure Privatsphäre mit dem schizophränen Über-Ich der Blogosphäre, verfolgt ihr didaktische Pläne einer Frühsensibilisierung der alternden Gesellschaft oder findet ihr es einfach erhebend Anerkennung in der Darstellung individuellen Leids zu erlangen. Denn journalistische Qualitäten, die objektive Bedeutsamkeit verhießen, jenseits der Todesanzeigen, lassen sich hier bei bestem Willen nicht erkennen. (nebenbei: auch wenn deine Collage durchaus als Netzpreziose gelten darf, Literatur würde ich an deiner Stelle trotzdem meiden)
p.s.: Ich habe einen an Hirnblutung verstorbenen Großvater, meine ehemalige Mathelehrerin siechte an Bauchspeicheldrüsenkrebs dahin und, ach, die immer dementer werdende allzheimerkranke Mutter eines Freundes durfte ich auch bestaunen. (und ich glaub mir geht es auch schon ganz schlecht…)
p.p.s.: Berichte über die alltägliche Pein der Existenz eines Behinderten/eines Gehandicapten/eines Gleichen könnten auch von Belang und hohem emotionalen Wert sein
p.p.p.s.: die nonchalante Erwähnung ödipaler Komplexe in einem Nachruf lässt wirklich tief blicken…
Moses, komm von Deinem Berg herunter“¦ Wie bei den Tafeln, die Du vor Dir herträgst, kannst Du es auch bei diesem Eintrag halten: Lesen — oder eben nicht. Keiner zwingt Dich“¦
@#688327:
das missverständnis fängt schon bei dem wort privatsphäre an: tatsächlich mache ich vor niemandem ein geheimnis daraus, dass meine mutter tot ist.
wäre ja auch seltsam.
dann suchst du journalistische bedeutung – warum du sie suchst, sagst du nicht.
dass du darin keinen literarischen wert erkennen kannst, kann ich dir nicht nehmen.
wer einen weißen bildschirm vor sich hat und ihn mit literatur füllen will, hat sowieso schon verloren. einigen wir uns doch darauf, dass du eine geschichte gelesen hast, die dir nicht gefällt. mehr nicht.
kein grund, lange leserbriefe zu schreiben, in denen die abschaffung privater geschichten in der blogosphäre gefordert wird.
Schön, ich fühle mit Dir. Vor Jahren verstarb meine Mutter und ich war weit weg, zu spät sie noch zu sehen. Die Zeit..
@Moses:
Come on – lass deine angestrengten Worttüfteleien. Ich bewundere Malte, dafür, dass er die schönen und schrecklichen Seiten des „der Mutter beim Sterben zusehen und sich an sie erinnern“ in einen so prächtigen Text packt.
Trotz ähnlicher Geschichte würde mir das nie gelingen. Hut ab, Herr Malte. Das ist ein großartig, schaurig-schöner Post.
Rechenbeispiel
Meiner allerliebsten ihre Mutter ist Jahrgang ’26.
Das Resultat ist deutlich unter 40. Mal Denken.
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Umso weiter die Geburtsjahre
-von einem selbst betrachtet-
entfernt sind, wird es irreal
(Nicht immer Nachvollziehbar).
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Leider muss man sich mit zunehmenden Alter
immer mehr mit dem Tod auseinandersetzen.
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Alles Liebe
@PiPi