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Wenn möglich: Bitte wenden

Wer hätte das gedacht? Es gab in den letzten Jahren so viele Zeitpunkte, an denen ich mir einen noch viel größeren gesellschaftlichen Aufschrei hätte vorstellen können, doch nicht die Debatten um die Netzsperren lösten diesen aus und auch nicht die Absichten im Rahmen der Vorratsdatenspeicherung.

Stattdessen ist es die CCC-Analyse des so genannten Staatstrojaners und die derzeit zu beobachtenden Auswirkungen dieser Analyse, welche die Bundesrepublik Deutschland am Tipping Point haben ankommen lassen.

Endgültig vorbei sind die Zeiten, in denen man die „Netzwelt“ noch außerhalb der „echten“ betrachten konnte, und in denen man die Sorge um Datenmissbrauch oder digitale Überwachung sträflicherweise als Luxusproblem paranoider Technik-Freaks abstempeln konnte.

Ab jetzt gibt es nur noch eine Welt, nämlich die, in der wir leben. Ob digital oder analog spielt dabei keinerlei Rolle mehr, es gibt keinen Unterschied.

In der Ermittlungs- und Spionagewelt der 70er Jahre konnte noch getrennt werden zwischen Telefonabhören und Wohnungsdurchsuchung. Wollte man sich in den Ordnern eines Verdächtigen umschauen, brauchte man einen Nachschlüssel oder musste die Tür eintreten. Wollte man hören, was er sagte, musste man eine Wanze einbauen. Heute gibt es einen für alles: den Trojaner. Raum und Kommunikation, Privates und Öffentliches liegen auf wenigen Zentimetern Festplatte dicht nebeneinander, Regale mit Steuerakten, Fotoalben, Liebesschwüren und geschäftlicher Korrespondenz. Der Kernbereich privater Lebensgestaltung, den das Grundgesetz besonders schützt, ist abstrakter geworden – und deshalb verletzbarer.

Dies schreibt Anna Sauerbrey im heutigen Tagesspiegel unter der Überschrift „Angriff aufs Ich“ und führt damit Leserinnen und Lesern deutlich vor Augen, was Experten schon lange zu vermitteln versuchen:

Es gibt nichts, das wir nicht zu verbergen haben, außer dem, was wir bewusst öffentlich machen.

Diese wichtige Nachricht ist inzwischen und endlich in jedem deutschen Wohnzimmer angekommen, also genau dort, wo der Aldi-PC steht und das Schnäppchen-Handy mit mobiler Flatrate liegt, und somit auch dort, wo in naher Zukunft Geräte ihren Dienst im Netzwerk leisten werden, die nicht mehr als Computer erkennbar sind.

Der Coup des Chaos Computer Clubs läutet daher eine neue Zeit ein, denn weder Politik noch Wirtschaft noch Zivilgesellschaft werden es sich weiterhin leisten können, den digitalen Lebensraum im stillen Kämmerlein zu verhandeln. Eine Wende in der Netzpolitik steht bevor, und selbst, wenn noch niemand genau abschätzen kann, in welche Richtung die Reise gehen wird: Schon bei den nächsten Wahlen könnten Streitpunkte um digitale Bürgerrechte Debatten um Autobahnverlängerungen in den Schatten stellen. Und das weiß nicht nur die Piratenpartei.

Empfehlenswert: Die aktuelle Alternativlos-Ausgabe zum Thema mit Fefe und Constanze Kurz.
MP3, 1:20

19 Kommentare

  1. 01

    Jaja… Heilsbringer Piratenpartei!
    Dass die zu diesem, ihrem Kernthema, bisher nur äusserst dünnes Blech abgelassen haben verschweigen wir dann lieber mal.

  2. 02

    oh ja, die Piratenpartei hat da leider wenig mit zu tun…..

  3. 03

    @#794669: @#794671: Ich schrieb: „Eine Wende in der Netzpolitik steht bevor, und selbst, wenn noch niemand genau abschätzen kann, in welche Richtung die Reise gehen wird: Schon bei den nächsten Wahlen könnten Streitpunkte um digitale Bürgerrechte Debatten um Autobahnverlängerungen in den Schatten stellen. Und das weiß nicht nur die Piratenpartei.“

    Der letzte Link geht zu einer Site von Mitgliedern der CDU/CSU. Es war also weder die Rede von „Heilsbringern“ noch davon, dass die Piraten etwas mit der Trojaner-Analyse zu tun hätten. Sie sind jedoch die Partei, die derzeit am ehesten mit Netzpolitik in Verbindung gebracht wird, und der Link zeigt: Das kann sich auch schnell ändern bzw. ändert sich schon.

    Worauf genau beziehen sich also eure Kommentare?

  4. 04

    Das mag jetzt dämlich klingen, aber: Wieso eigentlich die Straßenverkehrsmetaphern? Verunken Titel wie Freifahrt und Bitte wenden irgendeinen bundesdeutschen Datenautobahnwitz, den ich nie erzählt bekommen habe?

  5. 05
    Grumpy

    Mir fehlt da ja ein ‚endlich‘ im Schlußsatz … auch wenn es ein wenig den Witz schmälern würde.

  6. 06
    MsMillions

    Gibt es öffentliche Aktionen gg. diesen Umgang mit digitalen Bürgerrechten?

  7. 07
    Fufu

    Der schon seit langem beschorene Paradigmenwechsel in der Gesellschaft scheint Wirklichkeit zu werden. Ich bin gespannt. Das mag jetzt etwas abwegig klingen, aber der Kapitalismus hat es hinter sich – so wie einst der Kommunismus. Was hat das mit der Quellen-TKÜ-Software zu tun? Ich betrachte unsere derzeitige westliche Gesellschaft, wie sie derzeit regiert wird, als Wirtschaftshure mit neofeudalistischen Zügen. Das ist aber nicht als Statement gegen Demokratie und freie Wirtschaft zu verstehen, eher dafür! Denn Demokratie und freie Wirschaft sind schon lange nicht mehr existent.

  8. 08
    ralf

    irgendwie absurd die diskussion, weil es ja hier eigentlich ’nur‘ um die kompetenzuebertretung vonstrafverfolgerm geht. meine groessere sorge gilt eigentlich dem paradigmenwechsel der mit der vorratsdatenspeixherung einhergeht, naemlich erstmal jeden zu verdaechtigen.

    ( miese recht und gross klein schreibung wg fucking ipad)

  9. 09
    Negativity

    was an der aufregung am lächerlichsten ist, ist die tatsache dass die veröffentlichung des ccc genau 0 neue tatsachen ans licht gebracht hat. nada. niente.

    der bayern trojaner ist schon seit anfang des jahres bekannt. ( http://www.spiegel.de/spiegel/0,1518,748110,00.html ) es ist zudem bekannt, dass er unerlaubterweise angewandt wurde. es war ebenfalls bereits bekannt, dass er am flughafen bei einer sprengstoffkontrolle installiert wurde, und es war auch bekannt, dass es nicht um einen terrorismus vorwurf ging.
    nachdem sich nun also rausgestellt hat, dass es sich bei dem vom ccc untersuchten, vermeintlichen bundestrojaner doch nur um den bayerntrojaner handelt, ist jeglicher mehrwert der geschichte flöten gegangen.

    warum zum henker regen sich die deutschen jetzt darüber auf, und vor einem halben jahr hats keine sau interessiert?

  10. 10
    Stephan (Der Echte)

    @#794679: Weils jetzt hochoffiziell ist, man der Software habhaft wurde und nun offenbar ist das:
    – die verfassungswidrige Software immer noch eingesetzt wird (nicht, wie im Spiegel suggeriert: „einsetzte“)
    – andere LKA/Zoll die /gleiche/ Software benutzen
    – das Ding mitnichten „individuell auf den Fall zugeschnitten“ wird
    – noch mehr geht, als der Spiegel-Artikel beschreibt
    – und der Dilettantentrojaner scheunentorgroße Sicherheitslöcher in den PC reißt
    Über eine angebliche Trojaner-Software kann ein Spiegel-Autor viel schreiben. Wenns einer aber hat und zerpflückt, kann er den Innenministern und dem Finanzministerium (Zoll) ihre Scheiße unter die Nase halten. Mit heißer PR-Luft lässt der Gestank sich nicht wegfächeln.

  11. 11

    Das wird sich mit dem einsetzen auch nicht mehr ändern, sie werden nur nächstes Mal mehr aufpassen!!

  12. 12

    @Johnny: Ich habe mich unverständlich ausgedrückt. Ich hätte es nur sehr begrüsst, wenn Du auch erwähnt hättest, dass zu dem Zeitpunkt von den Piraten wirklich nur Blech gekommen ist.
    Der Vorwurf, der hinter der Verwendung des Wortes ‚Heilsbringer‘ steckt, richtet sich mehr an alle Anwohner Kleinbloggersdorfs. Du lenkst eines der Flaggschiffe in diesem Nest. Gerade aus Kleinbloggersdorf erwarte ich einen kritischen Umgang mit den Piraten. Die woll’ns doch so!

  13. 13
    echtjetzt?

    Bin ich der Einzige, der sich an der Formulierung „digitale Bürgerrechte“ stört?
    (nicht nur hier btw, aber gerade im Kontext dieses Artikels scheint die Formulierung unpassend)

  14. 14

    @#794684: Ah, verstehe, okay. Ich hatte überlegt, ob ich das FAZ-Interview mit rein nehme. Allerdings habe ich selbst schon sehr schlechte Interview-Erfahrungen mit der FAZ gemacht, hätte also vorher mit den Beteiligten reden wollen und zweitens gab es dann ja auch noch Updates von den Piraten… und dabei wollte ich die Piraten aber gar nicht so groß im Artikel drin haben. Daher fehlte das.

    @#794685: Mag sein, dass der Begriff etwas holpert… fällt dir ein besserer ein?

  15. 15
    echtjetzt?

    @#794701: Bürgerrechte zum Schutz der Privatsphäre.. ? :) ich weiß, dass ist kleinlich, aber ich habe eine Aversion gegen diesen Schlagwort-Schöpfungs-Journalismus, den man heute überall findet.

  16. 16

    War es nicht eher Zufall, dass das Thema gehypt wurde?

    Die Medien stürzen sich im Augenblick auf alles, was mit der Piratenpartei zu tun hat (Wahlerfolg, zu wenig Frauen, NPD-Mitglieder, verweigerte Stellungnahme…) und der Trojaner „ist ja auch irgendwie piratig“.

    Für die Oppositionsparteien war der Staatstrojaner ohnehin gefundenes Fressen. Insbesondere die angeschlagene FDP wusste das Thema zu nutzen und hat alles andere als Medienscheue gezeigt.

    Ich bezweifle, dass der nächste Skandal aus der Netzwelt gleichermaßen in die Presse kommt. Vor allem weil „Piraten- und Hackerthemen“ dann nichts neues und besonderes sein werden.

    Aber ich lasse mich gerne vom Gegenteil überraschen!

  17. 17

    Alle stürzen sich auf Informationen.

    Wenn diese auch noch Personenbezogen sind,
    wird es es erst interessant.
    Schlagwort: Paparazzi

    „Diese wichtige Nachricht ist inzwischen und endlich in jedem deutschen Wohnzimmer angekommen, also genau dort, wo der Aldi-PC steht und das Schnäppchen-Handy mit mobiler Flatrate liegt, und somit auch dort, wo in naher Zukunft Geräte ihren Dienst im Netzwerk leisten werden, die nicht mehr als Computer erkennbar sind.“ by J.H.

    Eben nicht.

    Wir bilden uns ein…