Über den Nachrichtenwert von Twitterbeiträgen wird seit Winnenden im Grunde nicht mehr diskutiert, sondern eigentlich nur noch geurteilt. Wer schon immer gegen das Internet, Neuerungen im Allgemeinen oder Twitter im Speziellen war, wer seine Nachrichten lieber auf Laufbändern auf N24 oder N-TV oder dem Videotext bezieht, durfte sich bestätigt fühlen und lautstark zu Wort melden: Der Fehler liege eben doch auch im Medium, Nachrichten auf 140 Zeichen auf Twitter, so der Tenor, das gehe einfach nicht zusammen.
Geht es doch, wenn man es kann. Und wie das geht, zeigt ein Fall, der ob des Amoklaufes in den deutschen Medien so gut wie nicht stattfand: dem unblutigen Coup auf Madagaskar. Was dort nämlich genau passierte, das drang lange Zeit kaum in die Medien außerhalb des Landes vor, unter anderem deswegen, weil in ganz Madagaskar ein AFP-Mitarbeiter quasi die Arbeit für die gesamte Weltpresse zu erledigen hatte.
Das bestehende Informationsvakuum wurde kurzerhand von Thierry Ratsizehena, einem Blogger und Experten für Marketing und soziale Netzwerke in der madagassischen Hauptstadt Antananarivo und Lova Rakotomalala, einem 31-jährigen madagassischen, aber in West Lafayette im US-Bundesstaat Indiana lebenden Biologen und ihren Twitteraccounts gefüllt.
Der Mechanismus war denkbar einfach: Thierry Ratsizehena verfolgte minütlich die örtlichen Medien und anderweitig verfügbaren Informationen und twitterte darüber und Lova Rakotomalala übersetzte und erklärte die Situation vor Ort der internationalen Leserschaft, verfolgte zudem Blogs von Augenzeugen und konnte so Informationen in einem Umfang und einer Tiefe in seinem Twitteraccount zusammentragen, wie es die internationalen Nachrichtenagenturen nicht vermochten. Mittels eines Feeds wurden zudem alle zum Thema gehörigen Beiträge auf Twitter in einem weitern Account namens MadagasarTweet zusammengetragen.
Seine Höhepunkt fand dies, als kurzzeitig das Gerücht, der gerade abgesetzte madagassische Präsident halte sich in der US-Botschaft auf, fälschlicherweise auch von Ratsizehena und Rakotomalala verbreitet wurde, woraufhin sich Dipnote, der offizielle Twitterer des US Department of State einmischte und die Meldung innerhalb kürzester Zeit dementierte.
Nun muss man dazusagen, dass es sich weder bei Thierry Ratsizehena noch bei Lova Rakotomalala um Amateure handelt. Ratsizehena ist qua seines Blogs und seines Berufes mit den Möglichkeiten des Netzes vertraut und Rakotomalala schreibt einerseits schon geraume Zeit in seinem Blog The Malagasy Dward Hippo über sein Heimatland und darüber im Rahmen von Ethan Zuckermans Global Voices-Netzwerk.
Angesichts des Mangels an Englisch und Französisch sprechenden Journalisten vor Ort wandten sich bald auch die Fernsehsender CNN und France24 an Lova Rakotomalala, um von ihm zu hören, wie er aufgrund seiner Kontakte und seines Hintergrundwissens die Lage in Madagaskar einschätze.
Und während sich nach Winnenden die deutschen Medien selbst versicherten, wie professionell sie gewesen und wie problematisch all Neue-Medien-Amateure seien, schrieb das US-amerikanische Wall Street Journal sehr respektvoll über die ehrenamtliche Arbeit Lova Rakotomalalas als digitaler Diplomat seines Landes. Rakotomalala wiederum weiß sehr genau, was er kann — und was er nicht kann. In einem Beitrag in der Global Post betont er: „Ich bin kein Journalist, nein. Ich sammle Beiträge von anderen Nutzern neuer Medien und bringe sie an eine größere Öffentlichkeit. Ich sammle Meinungen und Berichte über Ereignisse von ganz normalen Menschen. Ich mag es, wenn sie Photos einsenden um die Ereignisse zu bestätigen. Aber wir sind keine Journalisten. Wir betreiben keine Recherche und keine Untersuchungen. Wir sind das Gegenstück zu Journalismus.“
Scheint, als hätte da jemand fast nebenbei, ohne Theorie, aber mit sehr viel Praxiserfahrung, die Aufgabenteilung der Zukunft skizziert.
Eine Anmerkung zwecks Genauigkeit: Während die Machtübernahme selbst, wie geschrieben, unblutig war, gingen dem Coup Wochen der Gewalt voraus (siehe auch hier: http://en.wikipedia.org/wiki/Madagascar#2009_Malagasy_protests).
ein großer achtungserfolg für twitter. meinen respekt an die ersten beiden menschen, die es „können“.
Sack Reis umgefallen. Stimmung im Kanton Lyn Chi noch ruhig. Funktionär verdächtigt Dalai Lama.
Das würde ich jetzt nicht als Verdienst von Twittr an sich bezeichnen, sie hätten ihre Nachrichten auch auf jeder beliebigen Internetseite veröffentlichen können.
Abgesehen davon, daß insbesondere Bloggen in den USA ganz anders abläuft, da gibt es Stars, die Millionen im Jahr verdienen. Bei uns ist das ein Nebenjob…
Also Twittern ist doch in der Regel nicht viel mehr als das Weitergeben von Informationen, die man ohnehin überall bekommt. Natürlich außer solchen Sachen wie „Oh, bei mir hat’s grad geklingelt“, das kann man natürlich nicht wissen;) Aber wie gesagt, abgesehen davon:
99,9 % der „Nachrichten“, ganz gleich, ob gebloggt, getwittert oder öffentlich-rechtlich aufbereitet, sind unwichtig, nutzlos, überflüssig. Wenn ich mir anschaue wieviel Müll in den Feedreadern landet, dann sehne ich mir wirklich internetlose Zeiten zurück… aber geht ja nicht, ich bin leider süchtig;)
Gibt es dafür einen Beleg, dass das der Tenor war? Das habe ich so nirgends gelesen. Ich hatte im Gegenteil eher den Eindruck, dass man nach Winnenden von den Mainstream-Onlinemedien regelrecht gedrängt wurde, Twitter zu benutzen.
Naja meinetwegen, wenn es der Dramaturgie des Artikels dient… ;-)
@#712216: Natürlich geht das prinzipiell mit jedem Medium, es geht letztlich ja auch nicht um das Tool Twitter, sondern um eine bestimmte Kombination von Fähigkeiten, die so ein Medium mitbringt – und da zeichnet sich Twitter schon durch Schnelligkeit qua Kürze und die Zentralisierung aus.
@#712226: Mein Eindruck war, dass zu Winnenden vor allem die Mainstreammedien selbst Twitter auf verschiedene Weise genutzt haben – und dass der schwarze Peter, der eigentlich bestimmtem Verhalten gelten sollte, der EInfachkeit halber an neue Medien weitergereicht wurde. Und unter den neuen Medien war da eben Twitter ob des Aufschwungs des Mediums unter spezieller Beobachtung.
Ich warte ja immer noch auf den ersten per Twitter organisierten Lynchmob.
Wäre schön, wenn die ganze Auseinandersetzung unblutig gewesen wäre.
Dennoch mal interessant zu erfahren, warum sich die Berichte in den deutschen Medien so stark von den Berichten der Leute vor Ort unterschieden haben.
Allen Diskussionen zum Trotz bzgl. des Nachrichtenwerts von Twitterbeiträgen zum Trotz ist Twitter derzeit die wohl begehrteste Firma des Planeten. Nachdem Google einen Korb bekam, scheint nun Apple zu versuchen, sich den MikroNews-Dienst einzuverleiben –> Siehe: http://techfever.net/2009/05/05/twitter-fever-apple-to-buy-twitter/
Sie haben sich verirrt!
Wir schreiben das Jahr 2009.
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