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Kalle

„Rennt, ihr Säcke!“, schrie er immer vom Spielfeldrand und wedelte mit seiner Krücke. Stand da, rauchte, sah uns beim Rennen zu. 10 Kilometer immer schön um den Platz. 25 Runden, und für die letzten noch mal 2 extra. Waldlauf gab’s nicht, weil Kalle war ja n Krüppel. Kalle, der Trainer. Zwei Meter groß, schlacksig, sah aus wie ein Fohlen. Aber nur von weitem. War mal ein gefeierter Jugendspieler gewesen, damals. Beinharter Verteidiger, Jahrgang 1963. Den Riedle hat er immer zur Verzweiflung gebracht, damals, als es mit der Jugendmannschaft gegen Weiler ging. Davon erzählt er heute noch, am Stammtisch, und wie er dann nach Stuttgart gegangen ist, zu den Kickers, und mit dem Klinsmann gespielt hat. Im Training hat der den immer abgegrätscht, das die Knochen krachten. Jaja, der Jürgen.

10 Kilometer, immer rund um den Platz. Und einmal pro Runde an diesem verzerrten Gesicht vorbei, mit der Pornobrille in der Fresse, die Kippe in der Hand, die Schnapsfahne im Wind. Hätte n Großer werden können, der Kalle. Die Trainer früher immer: Aus dem wird was, das is einer, der beißt. An dem kommt keiner vorbei, der wär im Osten Grenzer geworden, hohoho. Und Lungen hat der, wie ein Pferd, ich sags Dir. Der spielt mal Bundesliga später, und dann haben sie ihm auf die Schultern geklopft. Du machst das, Kalle, Du schaffst das schon.

Gesoffen hat er ja früher schon gern, wenn er zu Hause war. Schön beim Weizen auf den Dorffesten den Mädels hinterherschauen. Ne ehrliche Haut, sagten die Freunde. Guter Kollege. Der wird mal n Großer, sagten die Mütter zu Hause, und den Mädels hats gefallen, wenn er ihnen hinterhergeschaut hat. Der Kalle, das is so einer. Und einer hat er dann häufiger hinterhergeschaut, die gefällt Dir, was, Kalle? Ach, lass mal. Die Bettina, die immer so laut lachen kann. Da, hörstes, wie sie lacht? Und der Kalle hat wieder rübergeschaut. Und die Bettina hat zurückgeschaut, und noch mal gelacht.

„Schneller, ihr Säcke!“ Da schreit er wieder. Was soll er auch machen, mit dem kaputten Bein. Im Sommer wars, da wollten sie auf so ein Dorffest fahren. Papa, kann ich das Auto? Ja, da, nimm die Schlüssel. Bist n Guter, Kalle, aus Dir wird noch n Großer. Und dann schnell noch Bettina anrufen, ob sie mit will zum Dorffest. Und, willste? Da lacht sie wieder. Aber klar! Na, dann komm ich Dich abholen, was? Au ja, komm mich abholen! Da freut er sich und hat ganz schwitzige Hände und so Sachen. Und hör mal, wie das Herz klopft, ganz schnell an was anderes denken, denk mal, wie du im Training dem Jürgen zwischen die Beine gehauen hast, einfach so. So musstes heute auch machen, einfach nur machen, komm, Kalle, bist n Guter, das wird schon.

Und dann schön zum Dorffest, da sitzt die Bettina neben ihm und ist ganz still, was soll sie auch sagen. Er sagt ja auch nix, is ja ganz aufgeregt, der Kerl. Und die Hände schwitzen wieder, ständig muss er sie am Hosenbein abwischen. Ich hol was zu trinken, sagt er, willst auch was? Ne Cola, sagt sie, und schaut zu den andern. Die tanzen. Kalle holt sich nen Weizen, das wird schon, einfach nur n bisschen was trinken. Bist n Guter.

Später hat er gesoffen, am Anfang wenig, dann hat man ihn häufiger gesehen, wenn er nachts aus der Kneipe nach Hause torkelte. „Bist n Guter!“, hat er dann immer geschrien, „Wirst mal n Großer!“ Irgendwann isses schlimm geworden mit der Sauferei, hat die Frau verprügelt und die Kinder. Hat verschlafen morgens und is nicht mehr zur Arbeit, nur noch manchmal. Mittags hat er schon drei Halbe getrunken gehabt, und als der Klinsmann Weltmeister geworden ist, hat er den Fernseher aus dem Fenster geschmissen. Am nächsten Tag hat ihn die Frau verlassen.

Dann sitzen se wieder da, der Kalle guckt, die Bettina guckt, und keiner weiß, was er sagen soll. Letztens hammer wieder gspielt, sagt er, und sie: Ach was. Ja, sagt er, und dann wieder gar nichts. Drüben wird Musik gespielt, da wird getanzt, und manchmal lacht ein Mädel, weil eine Hand zu tief gerutscht ist. Dann kommt der Hansi, aussem Nachbardorf, ja hallo Hansi, was machsten Du! Ja, tanzen will ich, und ob die Bettina? Die Bettina lacht, ganz glockenhell, wie sonst auch immer. Darfmer se Dir entführen, was meinsten, Kalle? Joa, klar, sagt der Kalle, dabei hat er die Frage gar nicht verstanden, weils plötzlich so rauscht in den Ohren. Der Hansi und die Bettina gehen tanzen, und manchmal hört Kalle die Bettina lachen. Und dann denkt er an Hansis Hand und trinkt ganz schnell, und jetzt muss er pissen, und dann geht er noch eins holen. Als er zurückkommt, da sieht er den Hansi und die Bettina tuscheln, und manchmal kichert die Bettina. So eine dumme Dreckskuh, denkt der Kalle, was grinst und lacht und kichert die eigentlich immer so blöd. Is doch n Arschkrampen, der Hansi, der kann doch nix. Geht aufs Gymnasium und lernt Latein und liest Zeitungen und so was, und Bücher auf Französisch. Der glaubt halt immer, er wär was, und die Bettina, die fällt rein auf so was. Das ist doch Scheißdreck, denkt Kalle, und geht noch einen trinken. Dann setzt er sich weg, manchmal hört er’s lachen, dann trinkt er n großen Schluck und schaut nicht, obwohl er gern will.

Irgendwann hört er’s nicht mehr lachen. Also lachen schon, die andern halt, aber nicht die Bettina. Und als er sich umschaut, da sind sie weg, alle beide. Da sitzen jetzt zwei andere und lachen, aber die Bettina und der Hansi… was die wohl jetzt machen? Da will er aufstehen, aber das Bier verdreht ihm das Gleichgewicht, oder vielleicht auch die Bettina, die jetzt nicht mehr da ist, was macht die wohl gerade? Das ganze Blut schießt innen Kopf, ja was macht die denn! Ach, scheiß drauf, sagt er sich, fahr ich halt nach Hause.
Am Auto trifft er dann die beiden, die sind am Knutschen, auf der Autohaube. Die Bettina lacht, als sie ihn sieht. Du, Kalle, sagt sie, fährste uns nach Hause. Da stottert der Kalle, was sagt man dazu. Ach sei nicht so, sagt die Bettina, komm, bist doch n Lieber und küsst ihn auf die Wange. Der Kalle nickt und sagt: Also, steigt ein. Die beiden steigen auf die Rückbank, und Kalle macht ganz laut Musik an, weil er’s nicht schmatzen hören will. Wenn er’s trotzdem schmatzen hört, dann fährt er ein bisschen schneller, das is gut für die Nerven. Einmal schaut er in den Rückspiegel, aber mehr weiß er hinterher auch nicht mehr. Am nächsten Tag steht in der Zeitung, dass das Auto sich acht Mal überschlagen hat, dass der Fahrer alkoholisiert war und viel zu schnell gefahren ist, und dass die anderen beiden Insassen nicht angeschnallt waren. Die Körper hat man fünfzig Meter vom Auto entfernt gefunden, völlig zerschlagen, aber der Fahrer, der ist mit leichten Verletzungen davongekommen. War ja auch angeschnallt.

„Rennt!“, schreit er wieder. Nach dem Unfall, sagt man, isser wieder nach Hause. Knie zertrümmert, Schluss mit lustig. Nie wieder Fußball, und zwei Leute auf dem Gewissen. Als die Frau weg war, hat er nur noch den Fußball gehabt. Die Jungs um den Platz scheuchen, das hat ihm gefallen. Und dazu Sprüche reißen, ein Arschloch war’s, ein Sadist, ein dreckiger Schleifer. Und immer besoffen. Wenn wir Samstag mittags gespielt haben, hat der seinen Rausch ausgeschlafen auf der Bank.

Irgendwann, aber da war ich schon weg, hat man ihn suspendiert. Hat im Rausch nen Schiedsrichter das Nasenbein zertrümmert. Was man so hört, hat er sich noch ne Weile auf den Sportplätzen rumgetrieben, irgendwann nicht mehr. Irgendwann isser auch nicht mehr in seiner Kneipe aufgetaucht, und nach drei Wochen hat mal wer der Polizei Bescheid gesagt. Die haben ihn dann gefunden, auf dem Speicher, gestunken hat er schon. Nen Abschiedsbrief hat man auch gefunden, da stand drin, dass der Klinsmann zur Beerdigung kommen soll.

Isser aber nicht.

Keine Kommentare

  1. 01
    icke

    Das nenne ich mal aufbauende Samstag-Morgen-Literatur!

  2. 02

    Der fred, das wird mal n Großer!

  3. 03
    Samuel

    So wie er schreiben kann, müsste er das werden, ja. Neue Autoren braucht das Land und Schätzng hats schließlich auch geschafft. Geniale Geschichte. Mein tiefster Respekt.