Alle paar Tage lese ich morgens in einer x-beliebigen Tageszeitung einen Artikel, der mir den Tag versaut, Brechreiz erzeugt oder mir vor Wut oder Fassungslosigkeit die Tränen in die Augen treibt. Oder alles zusammen.
Es ist ja glücklicherweise niemand perfekt, wir sind alle konsum- und zivilisationsgeschädigt, haben unsere Macken und Probleme. Alles soweit in Ordnung. Aber ich frage mich, wie krank wir als Gesellschaftskörper noch werden können und ich muss mich stark vorsehen, hier nicht wie ein verblendeter und realitätsferner Hippie zu klingen, wenn ich behaupte, dass die westliche, christlich und kapitalistisch orientierte Gesellschaft auf dem kompletten Holzweg ist und ich manchmal nicht recht weiß, wie ich damit umgehen und darauf reagieren kann.
Ich beziehe das auf die westliche Gesellschaft, weil ich diese am besten kenne, mir aber gleichzeitig auch sicher bin, dass einige kulturellen oder sozialen Ausgeburten einzigartig in ihr sind. Ich will damit nicht sagen, dass andere Kulturen „besser“ sind oder weniger Probleme haben. Garantiert nicht.
Es ist ja schon ekelhaft genug, wenn man über perfekt organisierte Kegelklubs lesen muss, die über Monate und Jahre Kinder quälen, brutalst vergewaltigen, verkaufen und töten. Man will die Details gar nicht kennen, die sich zwischen Menschen abspielen, die ihrer eigenen Tötung und Kannibalisierung zustimmen oder zwischen denen, die das dann „kopieren“ wollen und in S/M Foren jemanden als „Festmahl“ suchen. Man will auf keinen Fall etwas zu tun haben mit Musikern, die daraus dann einen Song machen, in Interviews die Aufregung darüber (mal wieder) nicht verstehen.
„Da isst mal jemand in Deutschland einen anderen auf und gleich schreiben alle Zeitungen darüber.“ – So wundert sich ein besonders intelligentes R***st**n Mitglied im Spiegel vor einigen Wochen. Ich will dieses dumme und überflüssige Beispiel einer Band hier nicht den Suchmaschinen überlassen, daher die Sterne.
Wir sind wir? Nee, nee, Jungs, das seid alles ihr und ein paar weitere hilflose Deppen, da könnt ihr Gift drauf nehmen. Das bin zumindest garantiert nicht ich, soviel steht fest. Nix mit „wir“.
So weit, so fies.
Bei allem bisher Genannten bleibt mir aber der Ausweg, vielleicht der Selbstbetrug, die Hoffnung auf Einzelfälle. Auf arme Verblendete, deren Taten mediengemäß Schlagzeilen machen. Täter sind immer auch Opfer, das wissen wir, auch wenn es die eigene Verzweiflung nicht lindert und den primären Opfern nicht hilft. Aber es ist wahr.
Diese Flucht wollte mir heute Morgen ein Tagesspiegel-Artikel über die „Festhaltetherapie“ nach Jirina Prekop (selber googeln, die bekommt ebenfalls keine Links von mir) nicht gewähren. Scheinbar ein alter Hut seit den 80ern, aber ich las zum ersten Mal davon und empfehle den interessierten Leserinnen und Lesern die Lektüre dieser Seminararbeit von Monika Krenner als Einstieg.
Der Artikel bzw. das Phänomen lässt daher keine Flucht zu, weil wir es hier nicht mit einzelnen Menschen zu tun haben, sondern mit einer merklich und messbar vorhandenen Masse von Eltern und Kinderärzten, die diese „Therapie“ anwenden bzw. die Anwendung propagieren und empfehlen.
Das System ist schnell erklärt: Um „die Liebe wieder fließen zu lassen“ empfiehlt nicht nur Frau Prekop, „schwierige, herrschsüchtige, hyperaktive und autistische Kinder“ festzuhalten. Ganz fest. Sehr fest. Gegen ihren Willen. Stundenlang. Auch, wenn sie sich wehren. Auch, wenn sie zur Toilette müssen.
Und zwar so lange, bis die Kinder jeden Widerstand gegen diese „Umarmung“ aufgeben. Und dann mit ziemlicher Sicherheit ihre Eltern ganz doll lieb haben.
Man nennt das auch Folter. Von Kinderärzten empfohlen, von erwachsenen Menschen in Kursen und in Therapiezentren und im privaten Bereich beworben, erklärt, gelehrt und umgesetzt.
Und damit sind wir wieder am Anfang dieses Artikels. Denn die immer stärker werdende Hilflosigkeit von Erwachsenen in der Konfrontation mit Problemen und die daraus resultierende, geradezu wahnsinnige Suche nach (sowie der folgende Konsum von) esoterischer, religiöser und therapeutischer Lebenshilfe, die scheinbar jedes eigene Denken und Handeln ausschließt und gar nicht abartig genug sein kann, dürfte tatsächlich bezeichnend für den westlichen Kulturkreis sein.
Was für eine zivilisierte und fortgeschrittene Gesellschaftsform wir doch sind. Wir kreieren soziale und familiäre Probleme und Konflikte durch Konsumzwang, Fokusverluste und der gesellschaftlichen und medialen Honorierung von asozialem Gemeinschaftsverhalten und foltern dann unsere Kinder, damit sie sich gefälligst gleich daran gewöhnen und ebenso verhalten.
Glaubt nun bloß nicht, dass ich es leicht finde, Kinder groß zu ziehen. Ich finde es sogar sehr schwer und ich bin oft am Ende meiner Weisheit, Kraft und Geduld. Sie brüllen, nerven, drehen aus unersichtlichen Gründen durch, halten sich nicht an Abmachungen, scheißen auf Termine, sind aus unserer Sicht unfair zu anderen.
Und wenn das so weiter geht, dann mache ich mit. Denn sie haben Recht.
Ich habe keine Kinder und bin auch noch weit davon entfernt welche zu bekommen. Aber ich kann den Zorn doch nachvollziehen.
Die Hilflosigkeit von Erwachsenen Menschen, von denen man erwarten können sollte, dass sie mit Problemen fertig werden (und damit meine ich nicht in jedem Fall diese zu lösen) und fähig sein sollten ihren Verstand zu gebrauchen, ist immer wieder erschrekend.
Ich glaube dass die Menschen durch das schiere Angebot an Hilfen, seien sie nun therapeutischer, esotherischer oder was auch immer für einer Natur, verleitet einfach viele dazu, sich so über Schwierigkeiten helfen zu lassen, als sich diesen zu stellen und daraus zu lernen. Es ist eben leichter.
Einen interessanten text, der auch bezug zu der Art nimmt, wie weite Teile unsere Gesellschaft mit Kindern und Teenagern umgeht finde ich den Essay ‚Why Nerds are Unpopular‘ (http://www.paulgraham.com/nerds.html) von Paul Grahm. Es geht zwar primär um Nerds, aber er diskutiert auch viel über das Schulsystem und was die Art dieses Systems über die Gesellschaft die es geschaffen hat aussagt. Vieleicht ist der Text ja von Interesse.
Neulich gab es im Fernsehen eine Dokumentation darüber. Darin wurde die Festhaltetherapie als unpopulär aber effizent beschönigt. Besser als Ritalin und so. Es war schlichtweg grausam mitansehen zu müssen, wie ein offenbar verhaltensgestörtes Kleinkind(!) permanent auf den Boden geworfen oder in den Sessel gedrückt wurde. Ein Kleinkind! Von den eigenen Eltern. Die fühlten sich sichtlich unwohl dabei, machten aber dennoch mit.
Ich weiß wirklich nicht, was man mit durchdrehenden Kleinkindern anstellen sollte. Aber sie mit Medikamenten vollzupumpen oder sie in den Polzeigriff zu nehmen, halte ich für keine guten Alternativen. Sehr krank.
funktioniert das auch mit hunden? unwilligen ehepartner? rebellischen angestellten? brecht ihren willen und macht sie hörig!
wahrscheinlich hören wir in 30 jahren nochmal von der methode. wenn aus den söhnen von heute frauenmörder mit mutterhass geworden sind. und über welche „erziehungsmaßnahme“ dann in den medien aus völlig anderer sicht berichtet wird, kann man sich ja ausmalen.
Interessant an dem Bericht vom Tagesspiegel finde ich, dass die „Therapie“ anscheinend vor allem von einigen Kinderärzten angewendet bzw. propagiert wird. Die „Götter in Weiß“ scheinen also auch bei Problemen befragt und von Eltern ernst genommen zu werden, für deren Lösung sie gar nicht qualifiziert sind. Kein Wunder, dass das gefährlich ist. Wenn mein Steuerberater mir Medikamententipps gibt, dann greife ich ja auch nicht blind zu, oder?