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Erwachsen

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Als mein Vater geboren wurde, war die Kommunistische Partei Chinas ein halbes Jahr alt. Wenn er mich Mitte der Siebziger Jahre im Kinderwagen herumfuhr, sagten ihm Fremde: „Haben Sie aber ein goldiges Enkelkind.“ Später hörte ich von meinen Freunden, die begriffen hatten, dass er nicht mein Großvater war, immer wieder den Satz: „Der ist ja älter als mein Opa.“

Und dieser Mann, der mich im biblischen Alter gezeugt hatte, sagte mir eines Tages, dass er im Grunde immer noch der kleine Junge sei, der von seinem älteren Bruder verhauen wurde, weil er die Vermutung aufgestellt hatte, dass Kinder durch denselben Akt entstehen, den Bulle und Kuh vollziehen (die Empörung des Älteren ist verständlich – er ging davon aus, dass Kinder durch einen Kuss gezeugt werden). „Man fühlt sich sein Leben lang, als wäre man sechs Jahre alt. Man lernt nur, die verschiedenen Rollen zu spielen“, sagte mein Vater.

Eben in der Änderungsschneiderei habe ich wieder daran gedacht. All die Gesprächsfloskeln, die Formeln, die mir die Begrüßung, einen Scherz, die Abwicklung des Geschäfts und den Abschied ermöglichen, die beherrsche ich. Aber das bin nicht ich. Ich würde Kontakt mit Fremden ab und an ganz gern hinter dem schützenden Bein meiner Mutter hinter mich bringen, würde beim Einkauf der Verkäuferin wortlos eine genau abgezählte Anzahl von Münzen in die Hand drücken. Und von der Erhöhung der Strompreise möchte ich auch noch nie etwas gehört haben.

Während ich ein selbst erlegtes Brötchen in meine Höhle schaffte, wurde ich dann auf dem Heimweg von einer jungen Russin gefragt: „Bist du schon zu alt für eine Revolution?“

Ja, das dann schon. Zu warm, zu hungrig, zu unidealistisch. Irgendwo zwischen quengelndem Kind und leidendem Greis. Das ist dann wohl erwachsen.

44 Kommentare

  1. 01

    Hallo alle zusammen,

    mein Kommentar passt zwar nicht so ganz zu dem obigen Artikel,
    aber in Anbetracht der Umstände hoffe ich auf Euer Verständnis.
    In der Hoffnung das Erwachsenwerden von Linus erleben zu dürfen!

    http://www.linus-lacht.de

  2. 02

    Dirk, stimmt, passt überhaupt nicht in die Kommentare zum Artikel. Ich habe die Infos auf den Link reduziert.

  3. 03

    (Verdammt schwer, frei von Floskeln sowas wie Nicken, immer wieder Respekt und ein Stück Dank für solche Einträge zu vermitteln. Ich probier’s mal mit Klammern drumrum.)

  4. 04

    malte, warum bist du kein mädchen? dann könnte man dich heiraten. wie geil kann man wahre und eigentlich komplizierte gedanken kurzfassen. krass.

  5. 05

    Danke @Johnny. Jeder Verweis könnte uns ein Stück weiterbringen und hoffentlich Leben retten!

  6. 06
    Der Jan

    Der vierte exzellente Artikel in Folge, Malte du hast zur Zeit echt einen Lauf. Btw: Dachte nach den ersten paar Zeilen erst, dass sollte ein Nachruf werden.

  7. 07

    Mein Feed Reader hat da diese tolle Funktion, dass man Artikel als Favoriten markieren kann. Da hab ich eben draufgeklickt.

  8. 08
  9. 09

    „Änderungsschneiderei“ ist der Killer. Viel mehr brauchte es fast gar nicht.

  10. 10
    Daniel

    Ich will nicht erwachsen werden. Ich mag keine erwachsenen. Eigentlich lügen die doch nur unentwegt – auch wenn sie es gar nicht mehr merken

    Grüße nach Norden,
    Daniel

  11. 11

    verschiedene rollen spielen wir wahrlich; danke für diesen artikel.

  12. 12
    westernworld

    wie so oft ein sehr schöner text eine wunderbare stimmungsminiatur, aber es ist immer dasselbe bei dir, ab einem gewissen punkt bist du so besoffen von deinen eigen wunderschönen worten das du glaubst dinge seien wahr weil sie gut klingen.

    „Irgendwo zwischen quengelndem Kind und leidendem Greis. Das ist dann wohl erwachsen“

    das ein gutteil unserer generation nie im klassisch protestantischen sinne erwachsen geworden ist mag man begrüßen oder bedauern, doch solange erwachsen sein mehr ist als fortgeschrittene volljährigkeit finde ich die these ziehmlich schwach.

    erwachsene sollten anderes erlegen als brötchen.

    schön war’s trotzdem.

  13. 13

    Mein Vater – den die Leute im Übrigen auch immer für meinen Opa hielten – sagt immer, dass die Persönlichkeit mit 4 Jahren fertig sei. Danach käme nur noch der Zierat.

  14. 14
    ajl

    Wow, sehr schön geschrieben! Mein Vater war Jhrg. 1918. Ich glaube darüber muss ich auch mal schreiben, jetzt wo ich selbst zwei Kinder habe und immer noch nicht weiß, wann ich „erwachsen“ im erwachsenen Sinne sein werde.

  15. 15

    Ja. Gestern habe ich aus einer Laune heraus das Grab meines Vaters (Jg. 1910) wieder besucht. Mittags war ich mit meiner Mutter essen. Manchmal kommt es einem wirklich vor, als ob die Zeit stehen geblieben wäre. Es ist ein wehmütiges Gefühl, aber auch ein schönes.

  16. 16
    PS

    wirklich ein schöner Text.
    Fühlt sich zu manchen Stunden des Tages sehr wahr an…

  17. 17
    Peter H aus B

    Peter Pan. Schon mal gehört?

  18. 18

    Schön, dass es noch etwas anderes als dieses doofe „Eigentlich sollten wir erwachsen werden“ vom doofen Neon-Magazin gibt, aber etwas ähnliches meint.

    Schlimm wird es nur, wenn man gar nicht in der Lage ist, sich wie ein Erwachsener zu benehmen, und mit vierzig noch nicht allein den Brief zum Briefkasten bringen kann (um mal Farin Urlaub sinngemäß zu zitieren).

    Letztes Jahr ist mein Großonkel gestorben und bis zu seinem Tod haben er und mein Großvater sich siebzig Jahre lang so gestritten, wie es nur Brüder können, die einander in Wahrheit sehr mögen.

  19. 19

    Hey Malte, danke für den Blick ins Innere!

  20. 20
    BandGap

    Als ich ein Kind war, da redete ich wie ein Kind und dachte wie ein Kind und war klug wie ein Kind.
    Als ich aber ein Mann wurde, tat ich ab, was kindlich war

  21. 21
    Maltefan

    @myhead (4)
    Quak! Gut dass Malte kein Mädchen ist. So kann er dann vielleicht mich heiraten *g*

  22. 22

    Du bist nie zu alt für die Revolution. Du darfst sie nur nicht für dich machen. Wenn du sie für deine Kinder machst, dann bist du jung genug, egal wie alt du bist.

    Übrigens wenn deine Lebensabschnittsgefährtin mit dir und den Kindern meckert, weil ihr gemeinsam Scheiße gebaut habt, dann weißt du wie sich Leben anfühlt.

  23. 23

    ganz prima text. ich werd melancholisch. *hach*

  24. 24

    also, das mit den münzen mach ich eigentlich so. in berlin geht das ja.

  25. 25
    sunny

    ein echter malte! die russin irritiert mich. spread the word.

  26. 26
    ick

    sach mal malte, bist du der selbe dicke malte in berlin, der nen auffälligen kurzhaarschnitt mit sich trägt, mit dem ich ca. 1 jahr bei ner agentur gearbeitet habe, die zahnärzte und apotheker beschiß, und deren chef immerwährend mit der selben regenjacke (ja, im winter wie im höchsten sommer) herumrannte? dessen vorname mit dem schönen buchstaben g beginnt, und dessen nachname mit nem r? biste der?

  27. 27

    Lukas (#18):
    Schreib‘ bei dir mal über die schlechten und guten Seiten der Neon und erzähl, was man zwischen Lustigem Taschenbuch und Spiegel lesen soll.

  28. 28
    Malte

    @ ick
    mein vorname beginnt mit einem ma und mein nachname endet mit einem ng, aber sonst kommt mir das alles auch nicht bekannt vor.

  29. 29
    MakeAMillYen

    Nur bei Frauen ist das anders. Die sind mit 6 schon erwachsen.

  30. 30

    @ Sven (#27):
    Ich hab die Neon zu lange nicht mehr gelesen, um die jetzt dezidiert analysieren zu können. Letztendlich muss das jeder selber wissen, aber ich würde auch von der Lektüre des Spiegels abraten. ;-)

  31. 31

    Sehr, sehr schön.

    Und nicht nur, weil ich das kenne, ein sehr viel älteren Vater als alle anderen zu haben.

  32. 32

    Das Photo ist leider noch nicht besonders beachtet worden. Schaut Euch doch diesen stolzen Vater an, der liebevoll und gleichzeitig lässig in die Kamera schaut.
    Tolles Photo.

  33. 33

    »Erwachsenwerden heißt, sich über seine Erziehung hinwegzusetzen« – sagte mir mein Vater. An diesem Punkt arbeite ich seit… erm mindestens seit ich 15 bin. Rein theoretisch könnte er auch mein Opa sein, vom Alter her.

  34. 34
    oli

    ach, ich weiß nicht, ob ich wirklich das von Cem beschriebene wehmütige Gefühl haben will oder die Grübelei, ob und wenn ja wie sehr ich jetzt schon erwachsen bin – was bringt mir das denn?

    Ich bin lieber im „Hier“ und „Jetzt“ und vielleicht noch ein bißchen im „morgen“. Mit „gestern“ und „übermorgen“ kann ich übrigens genauso wenig anfangen wie mit „erwachsen“ oder „nicht erwachsen“.

  35. 35

    Gib mir die Nummer der Russin. Bitte.

  36. 36

    Für die Revolution ist man nie zu alt. Das ist ein Märchen der Konservativen. (Wer mit 18 kein Herz hat…) Ich bin etwa genauso alt wie Du und werde jeden Tag politscher!

  37. 37

    Mein Vater war ein Opa und ein Junger dazu – man hat ihm sein Gefühl verbrannt im Krieg!

    Im Lager haben ihn die Kommunisten verhungern lassen (nicht die Russen – die eigenen Leut‘) – gab wohl noch ein russisch Mütterlein mit etwas Chleb in der Tasche.

    Aber die Satanisten im Kleid der Kommunisten rufen schon wieder um die Meinungshoheit.

  38. 38
    heidrun

    „für die revolution zu alt“… ich weiss nicht recht. kommen einem revolutionsgedanken nicht auch oft aus diesem kindlichen gefühl heraus, man müsse nur einmal richtig aufräumen und dann wäre alles gut? ist idealismus nicht oft auch eine grobe vereinfachung der dinge, weil man es eben lieber einfach hat als sich tag für tag mit dieser unglaublichen komplexität konfrontiert zu sehen? hach… gedanken zum abend. heute gibts jedenfalls keine revolution mehr.

    @ sven: die neon ist ein ganz übles spießerblättchen, und ich verwende das wort „spießer“ wirklich nicht oft. allerdings würde auch ich weder „spiegel“ noch „lustiges taschenbuch“ empfehlen. ich mag eigentlich nur die dummy, die süddeutsche und die zeit lesen.

  39. 39

    Ich empfehle nichts ;) Einzig für das LTB hab‘ ich schon Geld ausgegeben. Die Neon ist in meinem Milieu sehr populär und die Frage nach einer Print-Alternative stellt sich wirklich, denn Jugendlichen sind SZ und Zeit oft zu anstrengend.

  40. 40

    Mein Schwiegervater hat sich geweigert seinen fünfzigsten Geburtstag hinzunehmen. Das ist nun sieben Jahre her. Er sagt immer, er fühle sich immer noch wie der sechsjährige, der in Ober-Barmen an der Wupper spielt. Das ist wie gestern, sagt er. Mir geht es genau so, sage ich dann immer, nur der Fluss ist anders. Meiner war der Rhein bei Köln-Stammheim. Aber sonst …

    Ich bin nun 43 und meine Tochter neun. Monate. Wenn die Teenager ist bin ich knapp sechzig. Aber nur äußerlich. Meine kleine Tochter hat mir die Chance gegeben Kind zu sein, ohne aufzufallen. Wenn mir danach ist, gehe ich mit ihr ein wenig spielen, Bauklötze, Bälle, so was in der Art.

    Aber es gibt einen Unterschied zum Kind-sein damals: Heute kann ich Kind sein mit mehr Möglichkeiten, Gadgets, einem richtigen Auto und ohne ins Bett zu müssen, wenn die Laternen angehen. Das macht vieles einfacher.

    Wenn dieses Gefühl für jeden Menschen gilt (warum nicht?), dann sind die Kinder ja doch an der Macht. Und ein paar Kinder tagen demnächst an der Ostsee …

  41. 41

    … „Zu warm, zu hungrig, zu unidealistisch“… hungrig?

    mit dem wort „zu“ habe ich wiederum meine probleme.

  42. 42
    Frank 72

    Und jetzt stellt Euch vor, alle die, die wir als die richtigen Erwachsenen ansehen, würden sich eigentlich auch lieber hinter Mama’s Bein verstecken und tun alle nur erwachsen.
    Und: Wer sind denn die ‚richtig Erwachsenen‘? Alle die die älter sind? Oder Ulrich Wickert? Oder meine Eltern?
    Ich nehm‘ heut meinen Teddy mit zum Einkaufen!
    Frank

  43. 43
    AlterPaul

    Was ist „erwachsen sein“? Mit über 50 muß ich schreiben: keine Ahnung!!!
    Es muß ein Mythos sein.
    Emotional sollen wir ja unser Leben lang 6 jährige sein und…ich fürchte es stimmt. Das einzige, das ich als „erwachsen sein“ akzeptieren könnte, ist die verläßlichkeit gegenüber meiner Umwelt, also anderen Menschen. Und dann beginnt schon der „Zierat“, oder gehört es schon dazu?^^
    Der Artikel ist klasse, vielleicht besonders in meiner Altersgruppe.

    Paul