Am Samstag hat Berlin-Moabit, die Perle der prekären Bezirke Westberlins und Transitmeile für den Bus zum Flughafen Tegel, seine Krämerseele verloren. Der ehemalige Hertie, zwischenzeitlich Karstadt und am Ende wieder Hertie an der Turmstraße hat dicht gemacht. Ein Nachruf.
Ich liebe das Warenhauskonzept. Es ist ein wenig wie das Internet, nur realer. Alles, was ich kaufen will, vereint in einem großen Gebäude. Das Shoppen der kurzen Wege. Eine Gardinenstange, einen Tonträger und ein paar Socken kurz mal eingekauft. Super.
Vielleicht liebe ich Warenhäuser auch, weil ich in einer Kleinstadt zur Schule gegangen bin, die aus zwei Dörfern zusammengelegt wurde und so ein künstliches Stadtzentrum benötigte. Das wurde aus drei Schulen, dem Arbeitsamt und einem Kaufhaus zusammenbetoniert. In den Schulpausen trugen wir unser Taschengeld ins Warenhaus. Auf dem Karstadt-Wühltisch für eine Mark habe ich sämtliche wichtigen 90er-Eurotechno-Singles erstanden. Perplexer, Mo-Do und Marusha.
Ich fühlte mich dann auch sofort heimisch in Moabit, als ich beim Einzug vor bald sechs Jahren immer irgendwelche Kleinigkeiten benötigte und kurz auf die Turmstraße gehen konnte, wo von Westen aus betrachtet nach all den Nagelstudios und Ein-Euro-Läden und dem Nazi-Rathaus der Karstadt das Versprechen, alles auf kleinem Raum zu bieten, darstellte, aber selten einlöste.
Es war immer ein wenig mühsam an all den Wühltischen mit Ramsch vor der Eingangstür vorbeizukommen. Ich wollte nie Halskettchen und Roleximitate. Den billigen Stabmixer von vor der Kaufhaustür habe ich aber erworben. Der funktioniert auch noch.
Spezialdübel gab es alle. Was ich nicht alles hätte in die Altbauwände schrauben können, dank Karstadt. Standarddübel passend für ne Fünferbohrung waren allerdings meist aus. Als der Abwasserschlauch der Waschmaschine erneuert werden musste, gab es zwar Dichtungsringe für 17 verschiedene Waschmaschinentürentypen aber eben keinen Schlauch.
Ein Schwimmbrille bekam ich, Badelatschen zur gleichen Zeit nicht. Auch der Versuch, dort einen Wollpullover für daheim zu erstehen, schlug fehl. Ich kann zwar extrem spießig angezogen sein, aber für Karstadt in Moabit reichte das nicht. Dafür hatten sie diese tollen Kuhfellplüschpantoffeln.
Der Lebensmittelladen im Keller war exquisit. Es gab alles zwei Nummern zu teuer für Moabit und, wenn man genau auf die völlig zugestellten Bodenfliesen und die Kühltruhen sah, in der Originalinneneinrichtung der späten 70er.
Die CD- und DVD-Abteilung lockte zwar mit Kauf2-Zahl1-Angeboten, war aber so speziell sortiert, dass auch ich anfing, Musik digital zu erwerben.
Was es immer gab, war die persönliche Ansprache des Verkäufers aus der Haushaltswarenabteilung. Er hatte immer seine schwarze Lederweste über dem von der Wampe ausgebeultem Hemd an und in meiner Erinnerung trägt er Birkenstock. Egal, was ich fragte oder kaufte, er wusste immer, warum ich das, was es gerade nicht gab, auch nicht brauchte. Und er wollte die intimen Hintergrunddetails zu meinem Konsumvorhaben wissen. Für was man wohl Filzklebestreifen, Schraubhaken und eine Tube Silikon gleichzeitig nötig hat, hihi.
Ich mochte den Moabiter Hertie, der auch mal Karstadt hieß. Auch wenn ich am Ende nur noch Weihnachts- und Osterdeko und alle halbe Jahre mal eine Druckerpatrone gekauft habe. Was man eben so kauft in Warenhäusern.
Heute war er zu. Für immer. Nur ein paar unbeugsame Gemischtwarenhändler standen an den Wühltischen im nun ehemaligen Eingangsbereich und versuchten wie immer, billige Uhren, Halskettchen und anderen Ramsch zu verkaufen. Und der Drogeriemarkt bleibt, hat sich extra einen roten Teppich vor die Tür gelegt und schenkt den Passanten Kaugummis um sich selbst ins Bewusstsein potentieller Kunden zu bringen und vom Pleitefluch des übergroßen Mitbewohners zu lösen.
Ach ja: Einen Woolworth gibt es auch noch in der Moabiter Turmstraße. Noch.
Tja. ich wohnte Anfang der 90er um die Ecke, damals war der zwischenzeitliche Karstadt und bis vor kurzem Hertie übrigens Hertie. Vor der Fusion mit Karstadt. Und er hatte wirklich allerhand zu bieten, wenn ich auch später, nach einigen Umzügen, den Karstadt am Leopoldplatz im Wedding deutlich bevorzugte. Achja, einen einfachen emaillierten Bräter habe ich noch von Hertie in der Turmstraße, muss so 1992 oder 1993 gewesen sein, dass ich ihn gekauft habe. Aber der Lack, die Emaille, ist ab.
Da gehen sie dahin, die einstigen Konstanten des rheinischen Kapitalismus…
Viel Spaß übrigens bei Wooli…
Warenhäuser waren mir schon immer zu stressig, zu voll und es gab nie das was ich wollte.. Also von mir kein Nachruf, aber fehlen wird mir trotzdem irgendwas.
Schade, in dem Laden habe ich, neu in Berlin, damals meine halbe Wohnung zusammengekauft – Wasserkocher, Toaster, Bügeleisen … war für mich DAS Nahversorgungszentrum. Bin dann mal gespannt, was mit dem Objekt jetzt passiert. Ein dauernder Leerstand wäre für das Quartier, vorsichtig gesagt, ja eher suboptimal.
he, „Nazi-Rathaus“…lese ich richtig?
Nur weil da keine Araber drin sitzen?
Den leider schon länger geschlossenen Lebensmittelabteilungen dieser Hertie/Karstadt Häuser sind der größte Verlust. Wo sonst konnte man mindestes ein Dutzend Sorten Twinings Tee kaufen darunter Raritäten wie Lapsang Souchong und Gunpowder. Marktwirtschaft macht keinen Spaß wenn ihr solche Sortimente zum Opfer fallen.
@#724205: Danke für die Aufklärung über die Namesgeschichte. Hab den Artikel angepasst. Die alten Moabiter (60+) in meinem Haus sagten immer Karstadt, da ging ich davon aus, dass das so Bestand hat.
@#724209: „Nazi-Rathaus“, weil es das erste große Bauprojekt unter deren Herrschaft in Berlin war (mit der sie den einzigen größeren Platz in Moabit zugebaut haben). Im Schaukasten vor dem Rathaus ist aktuell eine Info dazu ausgehängt.
@ jacko
Auch Nazi-Rathaus, weil wenn Du von oben drauf guckst, feststellst, dass das Gebäude die Form eines „H“ hat.
Bin inna Turmstraße aufgewachsen, kenne Hertie auch noch von vor Karstadt… ja,ja… damals… da gingen wir aber auch noch in die – ACHTUNG – „Markt-Halle“ in der Arminiusstraße… da hat man dann den ganzen Rest (Badelatschen…) bekommen. Auch Essen. Die hatten so einen Comic – 2. Hand laden: Da habe ich in einem Anflug von Geldnot und kindlichem Leichtsinn meine Lucky Luke Sammlung vertickt… naja. Die MArktalle ist dann im Prinzip gestorben, weil Hertie Badelatschen und Dübel ins Sortiment aufgenommen hat… Hat offensichtlich aber nicht langfristig gereicht…
Ach, die Arminius-Markthalle gibt’s auch nicht mehr? Die Marktwirtschaft ist halt wirklich auf den Hund gekommen.
(Muss bei meinem nächsten Berlin-Besuch wohl tatsächlich mal Moabit einen Besuch abstatten.)
Ich bin jetzt auch nicht der, der einen gesteigerten Bedarf an Hertie und Co. hat, wenn dann bin ich eher der „Mall“-Typ. Ich weiss, unpersönlich und langweilig, aber vom Kauferfolg her einfach vielversprechender.
Hauptproblem ist die immer stärker werdende (geschäftliche) Verödung der Innenstädte. Das ist optisch und gefühlt ziemlich grausam.
@#724215: Die Markthalle gibts noch. Ist aber nur noch ein Schlecker, ein Norma drin. Alles andere kann man getrost vergessen. Aber wartet mal ab… Wenn die Turmstraße erst mal fertig umgestaltet ist, dann geht’s hier ab! Dann trennt der Kleine Tiergarten endlich nicht mehr das „gute“ vom „schlechten“ Moabit. Dann ist wieder alles Mittelmaß!;)
Zitat:
„Dann trennt der Kleine Tiergarten endlich nicht mehr das „gute“ vom „schlechten“ Moabit. Dann ist wieder alles Mittelmaß!;)“
@Die Erklärung: Auch Herr Schäuble und die Knackis? Im Keller soll ja noch die Guillotine eingelagert sein, für alle Fälle…
@#724218: Also im Frühjahr gab’s auch noch die Neuland-Metzgerei in der Markthalle.
Ein Wortspiel a la Hertie BSC Berlin wäre in dem Artikel Pflicht gewesen.
@#724221: Zu deren Angebot möchte ich mich hier nicht äußern.
Woolworth meinst du als Ersatz für Hertie? Ich weiß ja nicht. Ich gehe da manchmal aus Verzweiflung rein, wenn es nichts anderes gibt, aber ich habe noch nie wirklich was kaufen können, sogar, wenn ich wollte.
@Muriel: Früher hatte Woolie passables Besteck und Sparschäler…
Wie könnte denn ein zeitgemäßes Warenhaus, ggf. aus mehreren Anbietern auf der jetzt freien Fläche aussehen? Freies WLAN, ordentliche Snacks, und was sonst noch alles? Coworking? Denn irgendwie brauchen wir nach dem Nachruf auch eine Vision für eine Zukunft, oder?
OK, als gewählter Quartiersrat wünsche ich mir so was immer. Partizipation statt Resignation…
@#724227: Woolworth als Ersatz für diesen Hertie: Was suchen und oft nichts finden. Wobei Woolworth zumindest vor ein paar Jahren immer super Lego-Angebote hatte…
@#724253: Resigniert bin ich gar nicht so sehr. Ich stelle eher fest, dass ich bei aller Sympathie für das Haus selbst auch so wenig dort einkaufen wollte und erstanden habe, als dass ein Konsumverhalten wie meins zur Rettung hätte beitragen können.
Neben der (mir erschien das so) oft an jeglicher Moabiter Zielgruppe vorbeigehenden schrägen Angebotslage in dem konkreten Haus: Wer Warenhäuser gut findet, hat mit dem Kaufhof am Alex, den Häusern rund um den Europaplatz und für mobile Menschen auch dem Karstadt am Hermannplatz deutlich attraktivere Alternativen mit größerem Angebot. Da ist ein Hertie mittlerer Größe wohl einer zuviel.
Mehrere Anbieter, ein wenig Markenwelten und Mallstruktur klingt doch gar nicht so schlecht. So denn das Konsumentenpotential in Moabit da ist.
Muss da denn unbedingt ein Warenhaus sein? Was ist mit so Entertainmentgeschichten wie Cart-Bahn, Bowling, Klettergarten oder ähnliches verbunden mti einer neuen Stadtteilbibliothek?
Oder abreißen und in Moabit wieder ein Freibad aufmachen. Aber das kostet wohl zuviel. Einen Festplatz für das Turmstraßenfest?
Freies WLAN sollte es sowieso überall geben. ;)
Schule und Hertie das passt. In meinen 6 Jahren Grundschule bin ich jeden Tag auf dem Schulweg am Hertie in der Tumstraße vorbeigekommen.
Was ich aber viel ätzender finde, als das es Hertie jetzt nicht mehr gibt, ist das exponentielle Wachstum der vielen Billigläden, die Schrott verkaufen, der noch nicht mal den 1 Euro wert ist.
Ist ja grausig, was die Zugezogenen hier an Heimat-Duselei fabrizieren und dann doch immer nur mental im Dorf landen.
Tja schade drum, aber die Gegend is ja eh (wie der Rest Westberlins) am abnippeln.
Hab das Gefühl das Berlin irgendwann nur noch aus der Kastanienallee bestehen wird.
Im schlimmeren Teil Reinickendorfs aufgewachsen, hieß „in die Stadt fahren“ für uns immer zu Karstadt am Leopoldplatz gondeln. Das gibt es glücklicherweise immer noch.
Zu Protokoll: Der Woolworth ist inzwischen auch geschlossen.
Sehr schön geschrieben. Gibt es noch weitere Infos zu dem Nazi-Rathaus? Habe auf Anhieb nichts gefoogelt. Beste Grüße aus Moabit.
nur der Vollständigkeit halber, Hertie kommt bald wieder …