Guy Delisle hat ein Jahr in Birma verbracht. Seine Frau hat dort für Ärzte ohne Grenzen gearbeitet, und deswegen sind sie zu dritt mit Kleinkind in eine der repressivsten Diktaturen der Welt gefahren. Davon erzählt sein neuer Comicband „Aufzeichnungen aus Birma“, und um es vorweg zu sagen: das könnte das beste Buch sein, das ich dieses Jahr in Händen gehalten habe.
Birma ist ein gebeuteltes Land, und das nicht erst seit dem Zyklon oder den Aufständen der Mönche vor zwei Jahren. Seit 1962 in der Hand einer Militärjunta, sind alle demokratischen Bestrebungen in den letzten Jahrzehnten brutal niedergeschlagen worden. Birma (auch: Myanmar) gehört zu den ärmsten Ländern der Welt, und insbesondere die zahlreichen ethnischen Minderheiten an den Rändern des Landes werden mit roher Gewalt kontrolliert.
Delisle lotet die ganze Bandbreite aus zwischen absurdem Alltag und alltäglicher Bedrohung; zum Beispiel die Sache mit dem Rechtsverkehr. Um sich endgültig von der englischen Kolonialmacht zu lösen, führte das ehemalige Staatsoberhaupt Ne Win 1961 den Rechtsverkehr ein. Da aber Birma internationalen Wirtschaftssanktionen unterliegt, sind die einzigen Autos, die man dort fährt, japanische Modelle, die bekanntlich das Lenkrad rechts haben. Mit dem Ergebnis, dass es beinah unmöglich ist zu überholen. Und dass die Busse immer einen Beifahrer haben, der dem Fahrer sagt, wann er überholen kann.
Aber Delisle bleibt nicht bei Anekdoten. Einmal führt er einen befreundeten französischen Journalisten durchs Land, der danach in einer kleinen Zeitung einen kritischen Bericht über Birma veröffentlicht und ihn mit einer Karrikatur Delisles schmückt. Einer seiner birmanischen Freunde, dem er die Zeitung zeigt, kommt ihn in heller Aufregung besuchen, um ihm zu sagen, dass mit diesem Artikel ein anderer, bei der Regierung angestellter gemeinsamer Freund davon bedroht ist, seine Wohnung zu verlieren und zehn Jahre ins Gefängnis zu kommen: weil er einen kennt, der einen kennt, der im Ausland Birma kritisiert hat.
Guy Delisle erzählt mit einer Leichtigkeit und einem charmanten, beinah naiven Witz vom Alltag, von den politischen Umständen, von seiner Rolle als Hausmann, von den Bettelmönchen und.. ja, auch vom Wetter. Eine Leichtigkeit, die einem Lust macht, sofort selbst die Koffer zu packen und nach Rangun, der Haupstadt Birmas, zu fahren. Er interessiert sich für die Besonderheiten seiner Umgebung, ohne dass er in wilden Exotismus verfällt. Er erzählt von den vielen kleinen und größeren Seltsamkeiten, mit denen man im Alltag unter einer Diktatur zu kämpfen hat, mit stillem und gütigem Humor und mit Gelassenheit, ohne dass er sein Mitgefühl vergräbt. Und ohne nach Pointen zu haschen. Gleichzeitig scheut er sich nicht, ganz persönlich und direkt die Opfer der Militärjunta zu zeichnen; seine Form des Protestes gegen die Unmenschlichkeit dieser diktatur ist es, die Opfer zu zeigen. Ganz ohne moralischen Zeigefinger, ganz ohne gekünstelte Solidarisierung, sondern durch schiere Anteilnahme.
Es ist ein großartiges, ein ausgezeichnetes Buch, und bevor ich mich hier weiter in Lobeshymnen verpurzelbaume, schließe ich mit einer uneingeschränkten Empfehlung: Wer auch nur das geringste Interesse an Birma hat und Comicalben nicht für den Inbegriff des Abendlandunterganges hält, wird hoffentlich und vermutlich genauso viel Spaß haben an dem Buch wie ich.
Erinnert mich – rein vom Ansatz her – an die großartigfantastischen Comics zum Erdbeben in China vom letzten Jahr: http://earthquakestrips.blogspot.com/
Klingt mal wieder sehr spannend – nur sind 20 Euro auch nicht gerade geschenkt. Naja, mal schauen…
Vielen Dank für diesen Supertip, so fällt mir der Zugang zu diesem Thema definitiv leichter; auch dank des nicht hyperrealistischen Zeichnungstils von Delisle.
Aber…, wieso Loslösung vom UK durch Einführung des KREISverkehrs????
@#740811: Rechtsverkehr sollte das heißen. Danke!
@#740811: Das hätte wohl auch eher zu einer Annäherung geführt. Die Briten und ihre geliebten Roundabouts.
Geschenk für meine Frau gefunden. Die war vor ein paar Jahren da…
Die anderen von ihm sind auch ganz toll!
Er war schon in Nordkorea und in China und hat von dort ähnlich zeichnend berichtet….
http://www.guydelisle.com/english/biblio_en.html
ot: birma — stimmt „¦ da war doch was. erst stürzt sich fast das komplette web 2.0 welt auf dieses fleckchen land — dann großes schweigen. seltsames phänomen; das web 2.0.
topic: buch längst gekauft. lohnt sich!
Die Hauptstadt von Myanmar ist inzwischen nichtmehr Rangun sondern
http://de.wikipedia.org/wiki/Pyinmana_Naypyidaw
Wie auch immer, das Buch klingt interessant, auf jeden Fall was für die Wunschliste.
Wenn ich hier lese „Alltag in einer Diktatur“, dann fällt mir plötzlich ein, daß ich auch mehrere Jahrzehnte in einer Diktatur gelebt habe. Wünschenswert ist das natürlich niemals. Aber ganz so schrecklich, wie sich viele das vorstellen, ist es denn auch wieder nicht, sorry for that. Es ist halt alles viel trivialer, der Alltag sowieso.
Ja, ja, uns geht es ja so gut. Schaut mal wie schlecht es denen geht! UNS geht es ja sooo GUT!!!
alt!
(hehe, das tut immer wieder gut)
zu den anderen comics von delisle hättest du noch verlinken können, der gute hat nämlich ebenfalls in china und nordkorea eine zeit lang gelebt.
@10: naja, es kommt sicher immer darauf an. Diktatur!=Diktatur. Die DDR war sicher kein Zuckerschlecken, aber ich behaupte jetzt mal, dass Birma da einfach 2-3 Zacken schärfer drauf ist. Und das macht dann auch den Alltag verschieden, wenn man tatsächlich Angst um sein Leben haben muß oder ob man nur keine Karriere machen konnte, weil man nen Witz über die Partei gemacht hat…
Danke für den tip das ist das PERFEKTE Geschenk für meine Mutter :)
habt ihr noch Tips für miene kleine Schwester? Sie mag Kunst ;)
Hört sich irgendwie so an als wäre es Persepolis ähnlich. Und Persepolis ist genial. S.h., Danke für den Tipp, ist so gut wie gekauft/gewünscht.
@#741062: Da kann ich leider überhaupt nicht helfen; bei Kindergeschenken liege ich immer ziemlich weit daneben.