Krisenzeiten, gefühlte oder echte, erkennt man daran, dass sich der Kleinsparer wieder auf das Naheliegende besinnt. Urlaube werden gestrichen, Heimausstatter leer gekauft, die Videotheken erleben ihre Todesblüte und die freien Kleingartenparzellen werden auch knapp. Wenn diese Weisheit aus der Konsumanalyse stimmen sollte, dann ist die englische Popwelt inzwischen angekommen in der Krise, denn zumindest bei Ausstattung und Kulisse setzt man wieder auf das urenglische Klein- und Vorstadtleben.
Das letzte Mal als sich englische (und britische) Musikvideos eingehend mit dem Englischsein und dem Englischen beschäftigten, dominierte der Evertoner FC die erste englische Fußballliga, die damals auch noch so hieß. Das war in den 80ern, dem englischen Krisenjahrzehnt, der Thatcher-Ära, als sich die New Wave und Punk Bands am Leben im Königreich abarbeiteten.
Kaum ein The Smiths Video, dass ohne roten Backstein auskam. Rückblickend und durch die Zeit verklärt, entwickeln diese Videos eine ambivalente, romantisierende Wirkung, weil sie von einem authentischeren England auf der Straße zu berichten scheinen.
Man kann den heutigen Bands, die wieder auf diese Bilder zurück greifen, dann auch unterstellen die Symbolik von Reihenhaus, Fußball und Pub auch genau mit dieser romantisierenden Absicht mißbrauchen zu wollen, denn zwischen Songtext und Bewegtbild klafft hier diesmal eine riesige Schere.
Pete Doherty zum Beispiel, sein Soloalbum ‚Grace/Wastelands‘ ist seit wenigen Wochen draußen, hinterlegt die schnoddrige Single ‚Last of the english roses“™, eine 90er-Jahre Reminisenz, mit einem Straßenfussballspiel inmitten der typischen 60er Jahre Sozialwohnungen. Bilddirektorisch kaschieren Zeitlupe und Schnitt Dohertys Versagen am Ball. Der Song immerhin protzt nur so vor Selbstbewußtsein, weil er keine Single ist, und wohl auch keine sein sollte. Auf ‚Grace/Wastelands‘ zeigt Doherty seine wahre Souveränität und songwriterische Größe, es hält keine Hits bereit und ist dennoch ein großartiges Album. Das Video ist dann leider weniger souverän, auch oder gerade weil es sich am Ende lediglich in die vielen kleinen boulevardesken Skandälchen von Pete Doherty einfügt, wenn er einen seiner Mitspieler küßt.
[VIDEO] Peter Doherty – ‚Last of the english roses‘ (Dir. Douglas Hart)
Über The Rifles kann ich immer noch kein böses Wort sagen. Das 2006er Debütalbum ‚No love lost‘ klingt heute noch spannender als das Meiste, was seit den Arctic Monkeys den Retrofluss hinauf kam. Es ist allerdings zu befürchten, dass auch das 2009er ‚Great Excape‘ trotz seiner Großartigkeit kaum Aufmerksamkeit generieren kann. ‚The general‘ (Dir. Tom Oswald), dessen Video ebenfalls mit englischen Klischees nicht spart, hat alles was ein großer Song braucht, ein emsiges Riff, einen treibenden Beat, herumspukende Streicher und einen Killer-Refrain.
[VIDEO] The Rifles – ‚The general‘
Trotz all der Begeisterung für the Rifles sind Future of the Left wohl sowas wie der Tipp dieser Popgun!-Ausgabe. Die Band, die genau genommen aus Cardiff kommt, und damit den Titel (und meine Eingangsargumentation) ein wenig unterläuft, besteht aus zwei Dritteln der 2005 aufgelösten Mclusky und Future of the Left tragen diesen Namen nicht weil er so schmuck aussieht. Abseits der vielen britischen Befindlichkeiten geht’s hier richtig zur Sache. Und so klingt ‚The hope that house built‘, die aktuelle Single, nicht ganz zufällig wie live von der Spitze eines Protestmarsches:
In the end everybody wins as long as we remember there’s a reason for incredible wealth (incredible wealth), incredible luck (incredible luck).
Don’t despair life is just a dream and nobody can judge us if we choose to face ingradually (ingradually), makes everything right (means nothing can beat us).Come join, come join our hopeless cause.
Come join, come join our lost cause.
Come join, come join our hopeless cause.
Come join, come join our lost cause.
[VIDEO] Future of the Left – ‚The hope that house built‘
Aber zum Glück gibt es noch Take That, die mit ‚Up all night‘ (Dir. Daniel Wolfe) wirklich einen überraschend guten Titel abgeliefert haben (oder auch einfach bei Paul Simon gut zugehört haben), und es sich im warmen Schoß einer kleinen Nachbarschaft in Croydon bequem machen.
Das Video läßt sich leider nicht einbinden, tut der EMI also einen Gefallen und schaut auf Youtube vorbei, so man es aufgrund der Sperrungen sehen kann, bei mir läufts gerade nicht, Gott sei Dank hat MSN offensichtlich alle Lizenzgebühren bezahlt.
[VIDEO] Take That – ‚Up all night‘
Der gleiche Regisseur Daniel Wolfe, hat im Anschluss noch für The Energies einen Clip gemacht, der komplett in den Hackney und Walthamstow (das ist wiederum das Viertel aus dem East17 kommen) Marshes spielt. Das macht mich insofern glücklich, als dass ich da auch immer lang laufe. Und Owen Trevor, einer der Regisseure bei der BBC-Erfolgsserie Top Gear, hat Andy J. Gallagher, ganz stilecht mit Wimpel der WM ’66 und Reliant Scimitar (Titelbild) ein kleines Actionvideo gebaut. Auch alles voll mit englischen Klischees und vor allem: Roten Backsteinhäusern.
wie oft sie wohl drehen mussten, bevor pete bei 2:52 den ball volley getroffen hat?
Ohne Scheiß: Von all den netten Wortakrobatiken, die ich Spreeblick jemals gelesen habe, finde ich die „Todesblüte“ der Videotheken am Besten. Respekt! :-)
Damn it! Jetzt fällt mir nicht mehr die Band ein, in deren Clip lauter Teenager durch die Neubausiedlung rennen, aufm Bett knutschen, sich prügeln … Irgendwas mit „black and white world“ im Text glaub ich. Kam so vor 2 Jahren raus.
@#713469: Ohne Scheiß: Solche kleinen Bemerkungen freuen mehr, als man glauben mag. Und das, obwohl ich das nicht mal geschrieben habe! ;)
@#713467: das haben sie wie in diesem nike spot gemacht, der ball ist am rechner reingesetzt.
@#713469: da freu ich mich auch drüber.
>> Das letzte Mal als sich englische (und britische) Musikvideos eingehend mit dem Englischsein und dem Englischen beschäftigten, dominierte der Evertoner FC die erste englische Fußballliga, die damals auch noch so hieß. Das war in den 80ern, dem englischen Krisenjahrzehnt, der Thatcher-Ära, als sich die New Wave und Punk Bands am Leben im Königreich abarbeiteten. <<
Ja genau.
Als hätte es Oasis, Blur und die großartigen Pulp in den 90ern NIE gegeben. (und so einige andere, Verve, Suede …..)
Sorry, aber das ist BS, aber ganz großer.
@#713492: es geht doch hier nicht um englische musik generell, sondern um die darstellung des englischseins in den videos. zeig mir einen clip der von den dir genannten bands aus den 90ern, der genau den gleichen anspruch der hier genannten beispiele hat, der eine authentische, soziale wirklichkeit repräsentieren will.
@Nico
Mal anders gefragt, sollte es hier nur um die Videos gehen: Gibt es zum Beispiel ein einziges Video von Pulp, in dem es NICHT, wie ironisch auch immer, um genau das geht?
(Und das Wort „Wirklichkeit“ schlag dir man gleich aus dem Kopf. Das ist ne ganz andere Baustelle – siehe unten.)
Außerdem ist mir in dem Zusammenhang nicht klar, warum dann die selbstmitleidige Flitzpiepe Doherty jetzt für so eine „Wirklichkeit“ stehen soll. Weil er über ’nen Vorstadtfußballplatz latscht? Und mit gecasteten Models in Zeitlupe dribbelt? Oder weil er früher mal in der Foundry für umme gespielt hat?
Mann, mann, mann.
Die englische Realität in East London in der ich während des letzten Jahres lebte sah schon ganz schön anders aus. Und bestimmt nicht so schön rein WEISS zwischen all den Council flats. Insofern ist diese „Englishness“ nur aus Klischees konstruiert! (wobei ich in diesem Aspekt die Britpop-Bands der 90er nicht ausnehme).
Naja, und in der Foundry findet man meistens auch nur noch artsy-fartsy Shoreditch Twats.
@#713502: na da sind wir uns ja einig.
@#713482: Vielleicht wäre es mal an der Zeit für ein Wörterbuch der Spreeblickschen Wortschöpfungen. Allerdings ist Maltes Weggang in der Hinsicht eine echte Bearmerung. :(
Got it! British teenage boredom in Zeitlupe. Doves „Black and White World“ (offensichtlich schon 3 Jahre alt):
http://www.youtube.com/watch?v=NRir5AyF6dQ
@Alex: „… artsy-fartsy Shoreditch Twats“
:) Na komm, sind ooch nur arme Schweine, die dort wohnen müssen.
@#713522: großartig fotografiert.
Wenn es nach den musikalischen Bildern der Krisenjahren geht, wäre es in Irland bald wieder Zeit für einen Film wie „The Commitments“.
Echt geiles Foto! :-D