a: kennen sie polen?
b: nein. wie macht man das?
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kollateralschaden
Leichtigkeit Des Seins
“Meine Buben haben eine gewisse Leichtigkeit des Seins.” Otto Pfister
Togos Nationalcoach Otto Pfister hat vier Tage vor dem ersten Spiel seiner Mannschaft gegen Südkorea die Koffer gepackt und sein Team Richtung Schweiz verlassen. Als Grund führt er die anhaltenden Differenzen im Prämienstreit mit Togos Fussballverband an.
Die Spieler verlangen 120´000 Euro Antrittsprämie, dazu 30´000 Euro pro Sieg und 15´000 Euro pro Unentschieden. Der Verband ist im Gegenzug lediglich bereit, ein Total von 30´000 Euro zu zahlen.
Einige der Spieler wollen ihrem Trainer nun offenbar nachreisen, um ihn umzustimmen. Diesen bizzarren Vorfall einzuschätzen, ist – ohne tiefere Kenntnis der wahren Hintergründe – eine schwierige Aufgabe. Kann sein, dass Pfister in seiner Aktion die letzte Möglichkeit sieht, seinen leichten Buben zu ihrem gerechten Lohn zu verhelfen. Kann sein, dass er einfach den Schwanz einzieht.
Aber, meine Damen und Herren, so oder so: Ein Kapitän, der seine Crew führerlos auf hoher See zurücklässt, kurz bevor der Sturm hereinbricht… Will man denn überhaupt nachdenken über so einen Mann?
Und die Leichtigkeit des Seins hilft einem da auch nicht wirklich weiter.
Update:
Pfister hat sich inzwischen zu seinem Rücktritt geäussert.
Archäologie Der Männlichkeit
Insofern wäre für die meisten Sportler ein früher Tod nicht schlecht, weil sie nach der Karriere fast ausnahmslos unangenehm werden. Peter Sloterdijk
Der Galoppierende Major
Kleines Geld, kleiner Fußball, großes Geld, großer Fußball.
Ferenc Puskas
Das war, ich sag’s euch gleich, kein gewöhnlicher Fussballspieler. Untertrainiert und übergewichtig. Das war er. Und jetzt, 1961, nachdem er den Zenit seiner Karriere bereits überschritten hat, ist das mit dem übergewichtig eigentlich noch untertrieben.
Jedenfalls, was sollen wir noch lange um den heissen Brei herumreden, wie eine Presswurst, so sieht er aus im Real Madrid-Leibchen, schön ist das nicht, sowas zu sagen, aber wahr ist es trotzdem. Und was tut er gerade? Er tritt einen Freistoss im eigenen Stadion gegen Atletico, das sind die, die Anfang der Sechziger gerade ganz oben auf schwimmen, in Spanien.
Er also mit dem linken Fuss, wie immer, und der Ball segelt über die Mauer, und dort die Atletico-Spieler natürlich hochgesprungen, aber nix war, denn der Ferenc, der kann diese Bananen so sauber ballern wie auf dem Reissbrett gezogen. Und in die lange Ecke, und der Torhüter springt und streckt sich wie wenn er aus Gummi wär, aber er kommt nicht mal mit den Fingern dran, nicht mal mit den Fingerspitzen, und drin ist der Ball und im Netz und da kann keiner mehr was machen.
Und die Menge tobt. Und der Ferenc, so kurz seine Arme auch sind, er reisst sie hoch. Und alle anderen ihre Arme auch.
Aber der Schiedsrichter schüttelt den Kopf.
Fast peinlich ist es ihm, fast rot wird der Mann im schwarzen Trikot, und er geht zum Ferenc und entschuldigt sich und sagt, tut mir leid, aber ich habe noch nicht gepfiffen, und pfeiffen muss ich schliesslich, denn wo kämen wir sonst hin?
Und das versteht der Ferenc. Denn jetzt mal Frage: Habt ihr das gewusst? Dass wir hier vom gleichen Ferenc sprechen, der Kapitän von der ungarischen Mannschaft gewesen war, der goldenen Manschaft, die vier Jahre lang – und das sagt sich so leicht, aber denkt doch mal: vier Jahre – einfach niemand schlagen konnte, und die erst die Deutschen in Bern mit einem Wunder zur Strecke geackert haben?
Und weil er so dick war und trotzdem so schnell, haben sie ihn den galoppierenden Major genannt.
Genau dieser Ferenc ist das nämlich, und kein anderer. Sieht aus wie Presswurst, ist aber Fussballgott. Und spielt immer mit linkem Fuss. Jetzt, passt auf, wollt ihr die Legende hören, warum immer mit linkem? Weil eigentlich der rechte Fuss der starke ist. Aber zu stark. Mit dem hat er mal so hart geschossen, dass dann der Torhüter mit gebrochenen Rippen direkt ab auf den OP-Tisch. Dann haben die da oben vom Fifa-Zimmer ihm den rechten Fuss verboten. So die Legende. Stimmt sie? Wer weiss. Aber in jeder Legende ist ein kleiner Grashalm Wahrheit.
Also, dieser Ferenc, der steht jetzt auf dem Rasen, und muss den Freistoss nochmal schiessen, und diesmal wartet er, bis der Schiedsrichter pfeifft, denn nur weil er dick ist, ist er noch lange nicht doof.
Er also mit dem linken Fuss, wie vorher, und der Ball segelt über die Mauer, wie vorher, und dort die Atletico-Spieler natürlich hochgesprungen, wie vorher, aber nix war, denn der Ferenc, der kann diese Bananen so sauber ballern wie auf dem Reissbrett gezogen. Und in die lange Ecke, wie vorher, und der Torhüter springt und streckt sich wie wenn er aus Gummi wär, wie vorher, aber er kommt nicht mal mit den Fingern dran, nicht mal mit den Fingerspitzen, und drin ist der Ball und im Netz und da kann keiner mehr was machen, wie vorher.
Und da hat der Ferenc das Tor genau noch mal ganz gleich geschossen. Nur diesmal mit Pfiff. Und wenn die Menge vorher getobt hat, dann ist es jetzt ein Glück, dass kein Dezibel-Messer im Stadion, weil der würde nämlich zerspringen in lauter kleine Messerchen, so laut haben jetzt alle gebrüllt. Und das, nur damit ihr jetzt nicht denkt, das ist keine Legende, weil direkt in die Annalen von Real Madrid eingegangen, natürlich zu recht.
Und das alles gegen Atletico, das sind die, die Anfang der sechziger gerade ganz oben auf schwimmen, in Spanien. Bis sie den Ferenc nach Madrid geholt haben.
Dann war’s erst mal aus mit Atletico.
Die Todeself
Effizienz war das geringste Problem. Am 19. September 1941 marschierte die deutsche Wehrmacht in Kiew ein. Kaum 48 Stunden später hatten die Gäste 34 000 Juden umgebracht, eine halbe Million russische Soldaten in Kriegsgefangenenlager gesteckt und fingen bereits an, sich zu langweilen.
Zur allgemeinen Unterhaltung und Lockerung der angespannten Atmosphäre organisierten die Deutschen Fussball-Turniere. Das funktionierte so: Ein Team von gut durchtrainierten, wohlernährten Elite-Soldaten trat gegen eine Auswahl ausgehungerter, von den Entbehrungen des Kriegs gezeichneter Ukrainer an und demütigte diese, stellvertretend für die gesamte einheimische Bevölkerung, bis aufs Blut.
Ein Schatten aus Stahl und Tod hatte sich über das Land gelegt, und niemand vermochte ihm die Stirn zu bieten. Bis, eines Tages…
Ja, bis eines Tages die Betriebsmannschaft der Bäckerei Nr.1 auf den Plan trat.
Wie ein Lauffeuer machte die Nachricht die Runde. Die Bäcker aus Kiew hatten den Spiess umgedreht! Die Bäcker aus Kiew spielten wie die leibhaftigen Teufel! Die Bäcker aus Kiew gewannen ein Spiel nach dem anderen!
Der FC Start zahlte es den Deutschen heim!
Den Besatzern gefiel diese plötzliche Wendung der Dinge gar nicht. Sie setzten eine bisher ungeschlagene Flak-Elf auf die Bäcker an. Gute, schnelle, knallharte Jungs. Die Bäcker konnten nicht gewinnen. Die Bäcker gewannen 5:1.
Auch den Deutschen war längst klar, dass es hier um mehr als nur Fussball ging. Hier ging es um die Wirbelsäule eines niedergeknüppelten Volks. Die sich langsam, aber sicher wieder aufrichtete.
Also proklamierten sie ein Revanche-Spiel. Plötzlich hingen überall in Kiew Ankündigungen für die Partie; auf dem gleichen Papier, auf dem sonst die Erlasse publiziert wurden. Die Deutschen legten sich mächtig ins Zeug, stellten aus ihren Reihen die bestmöglichste Mannschaft zusammen und begannen sofort mit dem Training.
Und natürlich versuchten sie in Erfahrung zu bringen, warum zum Henker diese Bäcker so gut spielten. Sie setzten ihre Spitzel darauf an und fanden es heraus. Was sie hörten, gefiel ihnen gar nicht.
Hinter der Betriebsmannschaft der Bäckerei Nr. 1 steckten die Profi-Spieler der damals schon legendären Kiewer Fussballklubs Dynamo Kiev und FC Lokomotive. In den wirren Kriegszeiten hatten sie Asyl in der Brotfabrik gefunden. Top-Leute. Profispieler. Die Sahne der einheimischen Fussball-Elite.
Deshalb waren die Bäcker so gut.
Die Deutschen schäumten vor Wut und setzten einen SS-Mann als Schiedsrichter ein, der vor der Partie die Mannschaftskabine des FC Start betrat und die Spieler dazu aufforderte, erstens den deutschen Gruss formgerecht zu erwiedern und zweitens das Spiel zu verlieren. Ansonsten müsse man mit unliebsamen Konsequenzen rechnen. Wenn sich unter den Herren Spielern jemand befinde, der sich diesen zwei Bedingungen nicht gewachsen fühle, stehe es ihm selbstverständlich frei, zu gehen.
Der FC Start lief geschlossen auf. Das Zenit-Stadion war ausverkauft, die Stimmung war bedrohlich, und es wimmelte von SS-Männern und Schäferhunden; trotzdem waren Zehntausende gekommen. Viele von ihnen ahnten, dass es vielleicht die letzte Möglichkeit sein könnte, ihre Helden bei der Arbeit zu sehen. Als die Spieler des FC Start mit extra organisierten roten Trikots den Rasen betraten und den deutschen Gruss mit dem traditionellen Gruss des kommunistischen Sports beantworteten, stand die Menge auf wie ein Mann und presste die Faust an die Brust.
Das war nicht mehr Flak-Elf gegen Bäckerei Nr.1. Das war Deutschland gegen die Sowietunion.
Die Deutschen foulten unter den Augen des SS-Schiedsrichters, wo sie nur konnten und traten den gegnerischen Torwart bewusstlos. Trotzdem schossen die Bäcker ein Ding nach dem anderen. Das einheimische Publikum tobte und geriet derart in Ekstase, dass sich Nesthäkchen Klimenko, der bereits Verteidiger und Torhüter ausgespielt hatte, dazu hinreissen liess, den Ball auf der Torlinie zu stoppen und – statt ins Netz – zurück ins Spiel zu pfeffern.
Das Spiel war eine Ohrfeige für die Deutschen: Die Bäcker gewannen 5:3 und wurden zu Symbolen des Widerstands.
Zehn der elf Sieger wurden von der Gestapo verhaftet. Einer von ihnen wurde zu Tode gefoltert, die anderen ins Lager Siretz deportiert. Dort wurden die drei Beliebtesten von ihnen exekutiert, unter ihnen auch Nesthäkchen Klimenko.
Ein Zusammenhang zwischen ihrem Tod und dem gewonnenen Fussballspiel wird allerdings bis heute von rechtsgerichteten Kreisen bestritten und kann auch tatsächlich nicht erschöpfend nachgewiesen werden.
Wer sich eingehender mit dieser Geschichte beschäftigen will, der lese das Buch des Scorsese- und De Niro-Biographen Andy Dougan: Dynamo. Defending the Honour of Kiev
Jesus ist ein Kicker
Das dürfte die Torwartfrage wohl endgültig in einem neuen Licht erscheinen lassen. In diesem Sinne wünschen wir Jesus eine gelungene Auferstehung sowie eine reibungslose Verheilung seiner Wundmale und hoffen, ach was: beten, dass er bis zu Beginn der WM die Farben seines Trikots noch einmal überdenken möge.
Goal!
Gott vs. Maradona
22. Juni 1986, Mexiko City. Argentinien und Gott gegen England im Viertelfinal. Kurz zuvor hatte der Allmächtige mit seiner Hand bereits ein Tor für Argentinien geschossen.
Das zweite Tor für Argentinien schoss Maradona. Es war um Längen besser als das von Gott und wurde später von der FIFA zum Tor des Jahrhunderts gewählt.
Hier noch einmal beide Tore zum Vergleich.
Zuerst das Tor von Gott:
Und, um Klassen besser, Maradona:
Schneesturm In München
Das Brüllen der zweimotorigen British Airways-Machine zerfetzte jäh die friedliche Stille, die der fallende Schnee seit Stunden über die pechschwarze Nacht gelegt hatte. Augenzeugen sollten später berichten, wie die AS-57 ungewöhnlich tief über die Dachgiebel der Häuser fegte, bis sie eines davon mit der rechten Tragfläche streifte, sofort in Flammen aufging und auf einem Acker zerschellte.
Im giftigen Zischen des brennenden Wracks löste ein junger Mann seinen Sicherheitsgurt, stand auf und sah sich um. Frank, der Reporter von der News Chronicle, hielt die Zeitung, die er gelesen hatte, immer noch in der Hand. Aber sein Kopf blickte jetzt, in seltsamer Opposition zu seinem restlichen Körper, durch aufgerissene, tote Augen über die Rücklehne hinaus ins Leere.
„Bobby!“
Irgendwo schrie jemand seinen Namen. Verdammt! Sollten sie lieber mal was gegen den Rauch tun.
Der schwarze Qualm biss sich in seiner Netzhaut fest und trieb ihm die Tränen in die Augen. Übel. Wirklich übel. Eine warme, dicke Flüssigkeit sickerte auf seine Zunge. Er kannte den Geschmack. Aber im Moment kam er einfach nicht darauf, woher.
„Bobby!“
Der Typ hörte nicht auf, zu schreien. Langsam ging er Bobby ernsthaft auf die Socken. Er starrte verständnislos in die Richtung, aus der die Stimme kam, und konnte jetzt durch den Rauch hindurch eine Gestalt ausmachen, die fuchtelnd auf ihn zukam, ihn packte und über brennende Frackteile und die leblosen Körper seiner Freunde hinweg durch die Flammen zerrte. Dabei spuckte er Worte, die kein Mensch verstehen konnte und stiess ihn ohne die geringste Vorwarnung durch ein schwarzes Quadrat hindurch in die Leere.
Bobby segelte durch das Nichts und landete in einem weichen, kühlen Bett aus Schnee. Na gut. Sollten doch einfach alle machen, wozu sie Lust hatten. Er würde erst mal liegenbleiben und eine Weile in den schwarzen Himmel schauen, aus dem tausende und abertausende von kleinen, weissen Punkten auf ihn herabtanzten.
Es wurde still. Bobby lächelte. Das war schon besser.
In der Maschine, die am 6. Februar 1958 über die Startbahn des Flughafens München-Riem hinausschoss, starben 21 Menschen. Sieben davon gehörten zur den legendären Busby-Babes, der Stammformation des Fussball-Clubs Manchester United. Gerade hatten sie das Europa-Cup-Spiel gegen Roter Stern Belgrad klargemacht und waren auf dem Rückflug in München zwischengelandet, um aufzutanken.
Der damals 19-jährige Bobby trug ein paar leichte Schrammen am Kopf davon. Sie verheilten schnell.
Acht Jahre später, an der Fussball-Weltmeisterschaft im eigenen Land, führte Captain Robert „Bobby“ Charlton seine Mannschaft ins Final in Wembley. Er war massgeblich dafür verantwortlich, dass Wunderkind Franz Beckenbauer keinen Fuss auf die Erde kriegte. England siegte mit 4:2 und wurde Weltmeister.
Dass der Pokal, den er an diesem Tag jubelnd durch das Stadion trug, eine Fälschung war, ist eine andere Geschichte. Bobby wusste es jedenfalls nicht. Das wussten zu diesem Zeitpunkt nur ganz wenige Leute.
Aber es wäre Bobby mit grosser Sicherheit auch völlig egal gewesen.
El Condor
“Zeige mir einen Helden, und ich zeige dir eine Tragödie.” Scott Fitzgerald
Sie nennen ihn den ‘Kondor’, und wenn die Chilenen von ihm sprechen, dann zittert ihre Stimme vor Ehrfurcht und Bewunderung.
In Chile ist er ein Volksheld. Und es ist nicht zu leugnen: Der Nationaltorhüter Roberto Rojas scheint nahezu magische Kräfte zu besitzen. Denn mögen die Ledergranaten auch noch so hart geschossen und noch so genau platziert sein, Rojas schwingt sich in die Lüfte und pflückt sie alle aus dem Himmel.
Und heute, am 3. September 1989, liegen die Hoffnungen seiner Heimat ganz besonders auf ihm.
Chile und Brasilien haben sich in der Qualifikation für die Weltmeisterschaft 1990 ein verbissenes Duell geliefert, und alles hängt nun an der letzten Partie. Für Chile ein Auswärtsspiel. Das Stadion in Rio de Janeiro ist bis auf den letzten Platz ausverkauft, die Stimmung kocht, und die beiden Mannschaften prallen aufeinander wie zwei D-Züge in voller Fahrt.
Es ist eine Partie, in der keine Gefangenen gemacht werden: Beide Teams kämpfen ohne Rücksicht auf Verluste, und die aggressive Stimmung auf dem Spielfeld überträgt sich auf die Zuschauer. Die brasilianischen Fans schreien sich in den Blutrausch; immer wieder landen Gegenstände auf dem Spielfeld.
Als Brasilien dann noch mit 1:0 in Führung geht, muss auch dem optimistischsten Chilenen klar sein, dass es jetzt schwer wird. Sehr schwer.
Plötzlich zuckt ein heller Pfeil durch die Nacht. Aus der johlenden Menge fliegt eine Leuchtrakete direkt auf den chilenischen Nationaltorhüter zu. Ein Blitz! Ein Schrei! Rojas, der Kondor, der Liebling des chilenischen Volks, wälzt sich mit schmerzverzerrtem Gesicht am Boden.
Das Spiel wird unterbrochen, alles rennt zu dem Torhüter, der aus einer hässlichen Fleischwunde im Gesicht so heftig blutet, dass ein Raunen des Entsetzens durch das Stadion geht.
Auf dem Platz spielen sich jetzt tumultartige Szenen ab; nur mit Mühe können die Schiedsrichter die beiden Teams davon abhalten, aufeinander loszugehen. Rojas wird auf einer Bahre vom Feld getragen; der frische Verband um seinen Kopf ist blutgetränkt.
Die chilenische Mannschaft weigert sich geschlossen, die Partie fortzusetzen und verlässt unter dem ohrenbetäubenden Pfeifkonzert der brasilianischen Fans das Stadion.
Ganz Chile fürchtet um den Kondor und hält den Atem an. Als nach einer ersten Untersuchung bekannt wird, dass Rojas keinen ernsthaften Schaden davontragen wird, geht ein Seufzer der Erleichterung durch das Land.
Natürlich gehen die Chilenen davon aus, dass das Spiel annuliert, Brasilien für diese Ungeheuerlichkeit bestraft und Chile die Qualifikation zugesprochen wird.
Zunächst sieht es auch so aus. Aber dann taucht ein Foto auf. Ein Foto, das den Einschlag der Leuchtrakete zeigt.
Zwei Meter von Roberto Rojas entfernt.
Rojas gibt sofort alles zu. Die Chilenen sind schockiert. Noch schockierter sind sie, als Rojas eingesteht, sich die Wunde im Gesicht selbst zugefügt zu haben. Mit einem Messer, das er speziell zu diesem Zweck unter seiner Kleidung getragen hatte. Er hat nur auf eine Gelegenheit gewartet, es zu benutzen.
Auf Grund dieser Vorfälle wird Chile disqualifiziert, muss 31′000$ Strafe zahlen und ist für die Weltmeisterschaft 94 in den USA gesperrt. Das chilenische Volk wendet sich von seinem einstigen Helden ab und beschimpft ihn als verachtungswürdigen Feigling.
Das ist die Geschichte von Roberto Rojas, dem Kondor, dem geborenen Torhüter, der nach dem Vorfall in Rio auf Lebenszeit gesperrt wird.
Viva México!
“Alles, was ich über Solidarität weiß, habe ich beim Fußball gelernt.” Albert Camus
AUGUSTO MARIAGO war ein strenger Mann. Das muss man auch sein, wenn man es Tag ein, Tag aus mit gefährlichen Kriminellen zu tun hat. Und oh ja, das hatte er. Schliesslich war er der Direktor des Gefängnisses für Schwerverbrecher in Guerrero, Mexiko.
Am 7. Juni 1970 spielt die Mexikanische Nationalmannschaft im Zuge der Weltmeisterschaft im eigenen Land um alles oder nichts. Zwar hatte man Gruppengegner El Salvador mit 4:0 vernichtet, aber erst das Spiel gegen die ‘Roten Teufel’ aus Belgien würde entscheiden, welche der beiden Mannschaften das Viertelfinal erreichen sollte. Ganz Mexico starrte wie gebannt auf das Azteca-Stadion in Mexico City und hielt den Atem an.
Der strenge Augusto Mariago verfolgte das Spiel in seinem Büro, das er eigens zu diesem Zweck mit einem Fernseher ausgestattet hatte.
Kurz vor Ende einer nervenaufreibenden Zitterpartie entschied Mexico das Spiel durch einen heftig umstrittenen Elfmeter für sich und zog ins Viertelfinale ein.
Augusto Mariago war ein strenger Mann, kein Zweifel. Aber zuallererst war er Mexikaner. Als der Schlusspfiff den Sieg besiegelte, sprang er schreiend auf, griff sich seinen Dienstrevolver und rannte, ‘Viva Mexico’ brüllend und wild um sich schiessend, durch die Gänge der Strafanstalt.
Und schloss alle Zellen auf.
Denn, natürlich handelte es sich um Schwerverbrecher und Kriminelle. Aber zuallerst waren es Mexikaner, und an einem solchen nationalen Freudentag erschien selbst dem strengen Augusto Mariago eine Amnestie mehr als angebracht.
142 Mörder, Vergewaltiger und gemeingefährliche Irre ergriffen jubelnd die Flucht und waren schnell im Schutz der umliegenden Vegetation verschwunden.
Augusto Mariago wurde vor Gericht gestellt und freigesprochen. Er habe, so das Gerichtsurteil, aus patriotischer Erregung gehandelt.